Die Verstaatlichung der Eisenbahnen.








Die Vortheile der Verstaatlichung der Privateisenbahnen liegen zum Theil - soweit die im Winter 1879/80 verstaatlichten Bahnen in Betracht kommen - thatsächlich vor, zum Theil lassen sie sich mit Sicherheit voraussehen. Die Bedenken, welche gegen die Reform erhoben worden, haben bisher keinerlei Unterstützung in der Erfahrung gefunden und sind auch unschwer zu widerlegen.

Die Bedenken, welche gegen das Staatsbahnsystem von seinen Gegnern vorgebracht worden, richten sich namentlich gegen die Leitung der Verwaltung von einer Stelle aus, gegen die Erhöhung der politischen Macht der Regierung und des wirthschaftlichen Einflusses des Staates wie gegen die etwa damit verbundenen finanziellen Nachtheile.

Man hat vielfach geglaubt, daß höchstens ein Eisenbahncomplex von 2000 oder 4000 Kilometer von einer Stelle aus einheitlich verwaltet werden könne. Die inzwischen seit dem Jahre 1880 gemachten Erfahrungen haben diese Annahme widerlegt und als völlig unbegründet erscheinen lassen. Selbst ein Theil der früheren Gegner mußte in der letzten Session des Landtags zugeben, daß sie sich in dieser Beziehung getäuscht haben, und daß die einheitliche Verwaltung die besten praktischen Erfolge aufzuweisen hat, daß Unzuträglichkeiten und Uebelstände aber nicht zu Tage getreten sind. Dieses günstige Resultat wurde hauptsächlich mit dadurch erreicht, daß die Eisenbahnverwaltung, trotz aller Centralisation, die Oganisation im Sinne der Decentralisation einrichtete. Es wurden Behörden (Eisenbahndirectionen) errichtet, welche, mit den nöthigen Befugnissen ausgestattet, ein angemessenes Verkehrsgebiet trotz der Einheitlichkeit der für das ganze Staatsgebiet aufgestellten Normen mit einer gewissen Freiheit und Selbständigkeit und in steter Fühlung mit den wirthschaftlichen Interessen ihres Gebiet und den praktischen Bedürfnisses des Lebens leiten. Die gesetzliche Feststellung der schon bisher thätigen Bezirkseisenbahnräthe bürgt auch in Zukunft für eine gedeihliche Entwicklung der Eisenbahnverwaltung in alle ihren Theilen. Erwähnt mag hier werden, daß man mit der einheitlichen Verwaltung großer Eisenbahncomplexe in Amerika eine gleiche Erfahrung gemacht hat: dort befinden sich beispielsweise 6789 Kilometer in der Hand einer einzigen Privatverwaltung - es ist das die Chicago=Milwaukee= und St. Paul=Eisenbahn -, und diese einheitliche Verwaltung eines so großen Verkehrsgebiets hat zu keinerlei Unzuträglichkeiten geführt.

Die angeblich durch das Staatsbahnsystem begünstigte Erhöhung der politischen Macht der Regierung und des wirthschaftlichen Einflusses des Staates ist ein Bedenken, welches einer durchaus schiefen Auffassung von der Stellung des Staates und der Regierung entspricht. Letztere steht nicht in einem Gegensatz zum Volke, sondern hat keine anderen Interessen als diejenigen des Volkes; überdies steht sie immer unter der Controle der Landesvertretung und der Oeffentlichkeit, was bei den Privaterwerbsgesellschaften nicht in demselben Maße der Fall ist. Der Einfluß, welchen der Staat auf die Gestaltung des Verkehrs ausübt, ist im Uebrigen noch durch das sog. Gesetz über die wirthschaftlichen Garantien eingeschränkt worden. Dasselbe bestimmt, daß Sachverständige aus den Kreisen des Handels, der Industrie und der Landwirthschaft in „Bezirkseisenbahnräthen“ oder im „Landeseisenbahnrath“ sich über neue Einrichtungen des Eisenbahnverkehrs, insbesondere über Tariffragen gutachtlich äußern, womit den wirthschaftlichen Bedürfnissen des Landes genügend Rechnung getragen wird.

Das Hauptbedenken endlich, welches der Verstaatlichung entgegengestellt wurde, war die von der Veränderlichkeit der wirthschaftlichen Verhältnisse abhängige Zunahme oder Abnahme der Einnahmen der Eisenbahnverwaltung und die hierdurch möglicherweise entstehenden großen Schwankungen im preußischen Staatsbudget. Es mag zugegeben werden, daß derartige Schwankungen durch die Maßregel der Verstaatlichung eintreten können. Allein abgesehen davon, daß gegenüber den sonstigen großen Vortheilen derselben dieses Bedenken nur eine untergeordnete Rolle spielen kann, auch Schwankungen dieser Art in dem preußischen Staatshaushalt und zwar in viel erheblicherem Maße als sie jetzt zu erwarten stehen, vorgekommen sind, ist auch in dem Gesetze über die finanzielle Garantien wenigstens eine theilweise Abhülfe hiergegen dadurch geschaffen worden, daß, nachdem die ursprünglich beabsichtigte Bildung eines Reservefonds aufgegeben worden, die Ueberschüsse der Staatseisenbahnen bis zu einer gewisse normalen Höhe in den Staatshaushaltsetat eingestellt und das was darüber hinausliegt, zur Amortisation von Eisenbahnschulden bis zu ¾ Procent verwandt werden sollen, wodurch die jährliche Belastung des Ausgabeetats mit Zinsen allmählich verringert wird. Wenn zur Herstellung des Gleichgewichts des Budgets - in ungünstigeren Jahren - eine Anleihe erforderlich ist, soll der Amortisationsbetrag auf diese Anleihen angerechnet, mithin in der Amortisation inne gehalten werden. Die von gegnerischer Seite in der Verstaatlichung erblickte „Gefahr“ wird hierdurch wesentlich abgeschwächt.

Was die Vortheile anbetrifft, so entsprechen dieselben vollkommen den Absichten und Zwecken, welche für die Verstaatlichung ausschlaggebend waren, und als welche vornehmlich zu verzeichnen sind: Das Interesse des öffentlichen Verkehrs, unter größerer Berücksichtigung der wirthschaftlichen Bedürfnisse; eine rationellere Verwerthung des Nationalvermögens durch eine billigere einheitlichere Verwaltung; die Erhöhung der Vertheidigungsfähigkeit des Landes.

Das „Interesse des öffentlichen Verkehrs“ kann zwar auch von den Privatbahnen nicht in den Hintergrund gestellt werden, wenn es ihnen möglich sein soll, finanziell vorwärts zu kommen; da sie aber Erwerbsgesellschaften sind, so wiegt bei ihnen naturgemäß das finanzielle Interesse vor, welchem sie die sonstigen Rücksichten unterordnen müssen. Unter der Herrschaft des Privatsystems hat man vielfach eine gewisse Vernachlässigung der wirthschaftlichen Bedürfnisse der Nation empfinden können. Unsere industrielle und landwirthschaftliche Production wurde von den Privatbahnen nicht unterstützt, sondern im Interesse des Privatsäckels der Eisenbahnen oft minder günstig behandelt als die ausländische Production: das Streben nach privatwirthschaftlichem Reinertrage war größer als das Bedürfniß, dem vaterländischen Gewebefleiß eine Stütze zu bieten und so die Landeswohlfahrt zu fördern. Ueberdies machte die große Zahl von Privatbahnen sowie ihre Concurrenz die Tarife sehr mannigfaltig und ungleichmäßig, so daß es schwer war, dieselben im Voraus zu berechnen. Auch für den Verkehr von Personen war nicht immer im allgemeinen Interesse gesorgt. - In beiden Beziehungen hat die einheitliche Ordnung und Zusammenfassung des Eisenbahnwesens in der Hand des Staates schon Vieles gebessert. Die Verwaltung hat vielfache Tarifermäßigungen eingeführt und die Forderung der Reichsverfassung, daß die möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung erzielt und insbesondere bei größeren Entfernungen für den Transport von Kohlen, Holz, Erzen. Düngungsmitteln und ähnlichen Gegenständen ein dem Bedürfniß der heimischen Landwirthschaft und Industrie entsprechender ermäßigter Tarif, und zwar zunächst der Einpfennig=Tarif (pro Centner und Meile ein Pfennig Fracht) eingeführt werden, beinahe verwirklicht. Die neue Organisation hat ferner einen möglichst einheitlichen und in seiner Anordnung übersichtlichen Tarif ermöglicht, die sog. Lieferfristen sind verkürzt, d. h. die Schnelligkeit der Beförderung von Gütern ist vermehrt worden, die auf den Anschlußpunkten der Bahnen verschiedener Gesellschaften vielfach erhobenen Ueberführgebühren (eine besondere Abgabe für die Ueberführung der Güter von der einen Bahngesellschaft in die andere) wurden abgeschafft. Ebenso hat die Staatseisenbahnverwaltung den Interessen beim Publikum besser Rechnung getragen durch Pflege des Lokalverkehrs, namentlich durch Errichtung neuer Stationen und Haltestellen: die Einrichtung von Retourbillets wurde verallgemeinert, endlich wurden zahlreiche Verbesserungen der großen durchgehenden Züge herbeigeführt. Der Staat als solcher, der die Interessen der Allgemeinheit im Auge hält, muß in erster Linie - entgegen den Privaterwerbsgesellschaften - für die Förderung der Verkehrs= und wirthschaftlichen Interessen sorgen, der finanzielle Gewinn kann erst in zweiter Linie in Betracht kommen.

Eine rationellere Verwerthung des Nationalvermögens durch eine billigere einheitlichere Verwaltung“ ist der zweite Vortheil des Staatsbahnsystems. Dasselbe ist im Stande, bedeutende wirthschaftliche Ersparnisse zu ermöglichen und somit der Verschwendung des Nationalvermögens, welche in der Anlegung unproductiver Concurrenzbahnen und in der Verausgabung doppelter Betriebskosten besteht, vorzubeugen. Die Herrschaft des Privatsystems, welche neue Projecte nicht sowohl nach dem öffentlichen, als vielmehr nach den besonderen Interessen des jeweiligen Unternehmens in's Leben rief, hat die Volkswirtschaft in dieser Beziehung benachtheiligt. Die Concurrenz zweier Eisenbahnen nach demselben Ziele bürdet der Volkswirtschaft doppelte Bau= und Betriebskosten auf, ohne daß der volkswirthschaftliche und finanzielle Nutzen diesem doppelten Aufwande entspricht. Nach Uebernahme der im Jahre 1880 verstaatlichten Bahnen konnte sofort eine Summe von 84 Millionen Mark durch Nichtausführung projectirt gewesener Neu= und Umbauten erspart werden. Ihre unnöthige Verausgabung würde späterhin gewiß einen wenig erfreulichen Einfluß auf die Bemessung der Transportgebühren und die Rentabilität der Bahnen ausgeübt haben. Ferner konnten im Beamtenpersonal durch die Vereinfachung des Geschäftsverkehrs unter gleichzeitiger Aufbesserung der Gehälter für die verbleibenden Beamten Ersparungen vorgenommen werden. Durch das Zusammenwirken der alten und neuen Staatsbahnen wurde die Verwaltung billiger und ökonomischer. Der finanzielle Erfolg der Verstaatlichung kennzeichnet sich dadurch, daß die Ueberschüsse der Eisenbahnverwaltung des Jahres 1880 nicht nur die Deckung der Zinsen der Eisenbahnschulden, sondern auch die Deckung der sich auf über 84 Millionen Mark belaufenden Zinsen der genannten Staatsschuld ermöglichen und überdies noch etwa 18 Millionen Mark für andere Staatszwecke übrig bleiben.

Daß die einheitliche Verwaltung der Eisenbahnen in der Hand des Staates die militärische Sicherheit und Vertheidigungsfähigkeit des Landes erhöht, weil im Falle des Krieges nicht erst eine einheitliche Leitung geschaffen zu werden braucht, dieselbe vielmehr schon mit Sicherheit functionirt, bedarf seiner näheren Erörterung.

Stellen wir die theils nicht stichhaltigen, theils durch gesetzgeberische Maßregeln behobenen Bedenken den großen Vortheilen der Verstaatlichung der Eisenbahnen gegenüber, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Preußen mit dieser Neuorganisation einen großen Fortschritt gemacht hat.

Im Auslande sieht man mit neidischer Bewunderung auf dieses Werk Preußens, und überall - in Dänemark, Ungarn, Oesterreich und Frankreich - ist man entschlossen, dem Vorgang Preußens auf diesem Gebiete zu folgen; in Frankreich ist wohl nur vorübergehend dieser Gedanke in letzter Zeit in den Hintergrund getreten, in den anderen Ländern hat man mit der Verstaatlichung bereits erfolgreiche Schritte gemacht.

Daß im Wesentlichen vollendete Unternehmen der Durchführung des Staatsbahnsystems darf sich den bedeutendsten Reformen an die Seite stellen, welche die Größe Preußens bedingt haben.








Quelle: Euskirchener Zeitung vom 22. Juli 1882
Archiv: Anton Könen Mechernich









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