Die Verstaatlichung der Eisenbahnen.








Jeder weiß, daß das Eisenbahnnetz in den letzten zwanzig Jahren eine gewaltige Ausdehnung erfahren hat. Bis zum Jahre 1875 gab es in Deutschland 28142 Kilometer Eisenbahnen, wovon auf Preußen allein 16244 Kilometer fielen. Die Eisenbahnen sind zum großen Theil von Privaterwerbsgesellschaften angelegt worden, denen sie bald eine Quelle des Reichthums und der Wohlhabenheit wurden. Denn durch die Eisenbahnen steigerte sich der ganze wirthschaftliche Verkehr zwischen allen Orten innerhalb Deutschlands wie mit dem Auslande. Jede Eisenbahn, die gebaut wurde, war für die betreffende Gegend eine Wohlthat; sie erleichterte nicht nur den persönlichen Verkehr, sondern gestattete auch der Landwirthschaft und Industrie, ihre Produkte in entferntere Gegenden zu senden, und spornte sie zu reicherer Entwicklung des Gewerbsfleißes an.

Das steigende Verkehrsbedürfniß ward nun selbst zu einer Erwerbsquelle, zu deren Ausnutzung sich Privatgesellschaften, unterstützt durch Capitalien der Begüterten, zusammenthaten. In der früheren Zeit, wo man die privatwirthschaftliche Thätigkeit in dem Glauben an den Segen der freien Concurrenz nach allen Richtungen hin begünstigte und gewähren ließ, unterließ es der Staat, die für ihn so vortheilhafte und ihm ganz natürlich zugehörige Erwerbsquelle des wachsenden Verkehrsbedürfnisses für sich allein mit Beschlag zu belegen, und beschränkte neben der Anlage einzelner Bahnen auf eigene Rechnung, seine Rechte lediglich auf Ertheilung von Concessionen wie auf die Oberaufsicht über die Schienenstraßen. Auch zeigten sich die Privatgesellschaften geneigter, das mit dem Bau neuer Bahnen stets verbundene Risiko zu übernehmen, weil ja auch die Verantwortung für das Mißlingen und der etwaige finanzielle Verlust sich auf viele Köpfe vertheilte, von denen jeder einzelne eine verhältnismäßig nur geringe Summe auf's Spiel setzte.

Erst als die Zahl der Privatgesellschaften immer größer wurde, als immer mehr Bahnen gebaut wurden, von denen die eine die andere zu überbieten, zu verdrängen und zu schädigen suchte, und als das Gründungsfieber zu vielfachen moralischen wie wirthschaftlichen Mißständen führte, kam die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit zum Durchbruch, die Eisenbahnen und somit das Recht, das Verkehrsbedürfniß finanziell auszunutzen, dem natürlichen Besitzer dieses Verkehrsrechts, dem Staat zu übertragen. Denn die im Eisenbahnwesen unumschränkt waltende freie wirthschaftliche Concurrenz hatte nicht sowohl bei der finanziellen Anlage, als bei dem Betriebe und der Ausnutzung der Bahnen zu einer förmlichen Verschwendung des Nationalvermögens und zu einer Vernachlässigung der Interessen der Allgemeinheit, zu Gunsten der privaten Interessen der capitalbesitzenden Theilnehmer der Eisenbahngesellschaften, geführt. Die im Jahre 1873 durch den König eingesetzte Untersuchungscommission über das Eisenbahnconcessionswesen erklärte zur Beseitigung dieser Uebelstände den Uebergang zum Staatsbahnsystem für nothwendig.

Dieses Ziel wurde um so mehr in's Auge gefaßt, je mehr die Ueberzeugung sich verbreitete daß es die Aufgabe des Staates sei, die lange Zeit weniger gepflegten wirthschaftlichen Interessen durch eine kräftigere Entwicklung der nationalen productiven Kräfte zu fördern und durch die Gesetzgebung der Entfaltung dieser Kräfte zum Besten des Gemeinwohls Erleichterungen zu verschaffen.

Zuerst trat der Gedanke hervor, das neu gegründete Reich in den Besitz aller Bahnen zu setzen, um das Verkehrsleben einheitlich zu gestalten, zumal nach der Verfassung die Beaufsichtigung des Eisenbahnwesens dem Reich unterliegt. Dieser Gedanke fand lebhaften Widerhall, seine Ausführung scheiterte aber an dem Widerspruch der öffentlichen Meinung einiger Bundesstaaten, weil dieselben darin die Möglichkeit einer Benachtheiligung und Einschränkung ihrer Hoheitsrechte erblickten. Es lag dem Reich fern, einen Druck auf die Bundesstaaten auszuüben. Aber die Unausführbarkeit de Gedankens von dem „Reichseisenbahnsystem“, die hiermit zu Tage trat, gab Preußen den Anlaß, nun um so energischer an die Reform des Eisenbahnwesens in seinem eigenen Gebiete zu denken und die Ziele, welche man mit dem Reichseisenbahnsystem erstrebte, in engeren Grenzen zu verfolgen. Wir wollten „uns in unserem Hause selbst vorläufig so einrichten, wie es unserem Interesse entspricht.“

Das Programm der Erwerbung der Privateisenbahnen oder der Durchführung des Staatseisenbahnsystems in Preußen wurde im Jahr 1876 vom Fürst Bismarck mit folgenden Worten aufgestellt und begründet:

„Wir sind in Bezug auf den Eisenbahnverkehr in eine Lage gerathen, wie sie sonst seit dem Mittelalter Deutschland nicht eigenthümlich war. Wir haben in ganz Deutschland, glaube ich, 63 verschiedene Eisenbahnprovinzen - das ist fast zu wenig gesagt, sie sind selbständige als Provinzen, Eisenbahnterritorien möchte ich sie nennen -, von denen vielleicht 40 auf Preußen kommen werden. Jede dieser territorialen Herrschaften ist nun mit den mittelalterlichen Rechten des Stapelrechts, des Zoll= und Geleitwesens und Auflagen auf den Verkehr nach Willkür zu Gunsten ihres Privatsäckels vollständig ausgerüstet, ja selbst mit dem Fehderecht. Daß diese Zustände nicht dem Ideale entsprechen, das die Reichsverfassung aufstellt, dem kann, glaube ich, nur dadurch abgeholfen werden, daß auch in Preußen ein anderer Weg der Abhilfe als bisher versucht würde, wenn der Uebergang an das Reich nicht stattfände.“

Mancherlei Hindernisse, welche vornehmlich dem immer noch herrschenden Glauben an den Segen der freien wirthschaftlichen Concurrenz beruhten, stellten sich der sofortigen Inangriffnahme der Verwirklichung jenes Gedankens entgegen. Erst im Jahre 1879 wurden die Vorbereitungen zum Ankauf sechs großer Privatbahnen so weit vollendet, daß dem im Herbst jenes Jahres zusammentretenden neugewählten Abgeordnetenhause darauf bezügliche Vorlagen gemacht wurden. Die große Mehrheit des Hauses billigte entschieden das Vorgehen der Staatsregierung, welches heftig nur von der Fortschrittspartei - aus Vorleibe für die privatwirthschaftliche Thätigkeit -, aber auch von den Ultramontanen - aus Besorgnis, daß das neue System einen Uebergang zu dem Reichseisenbahnsystem und somit eine Vorbereitung zur Beeinträchtigung der Rechte der Einzelstaaten bilden könne, bekämpft wurde.

Durch den Ankauf jener Bahnen - es waren dies die Berliner, Stettiner, Magdeburg=Halberstädter, Hannover=Altenbekener, Köln=Mindener, Rheinische, Berlin=Potsdam=Magdeburger und die Hamburger Eisenbahn, sowie der bisher dem Hessischen Staate gehörige Antheil der Main=Weser=Bahn - wurde der bis dahin nur 6199 Kilometer betragende Umfang des Staatsbahngebietes um 5001 Kilometer, also auf 11200 vergrößert. An neuen vom Staat gebauten Eisenbahnen kamen noch bis zu Ostern 1881 409 Kilometer hinzu, so daß die Gesammtbetriebslänge der Staatsbahnen um diese Zeit 11609 Kilometer betrug.

Die Ueberführung dieser Eisenbahncomplexe in die Staatsverwaltung ging so schnelle und glatt, ohne irgendwelche Unzuträglichkeiten und Schwierigkeiten vor sich, er nunmehr in einer Hand liegende Betrieb dieser Bahnen war finanziell und wirthschaftlich von so günstigen Folgen begleitet, daß die Regierung sich im Jahre 1881 entschloß, nicht auf halben Wege stehen zu bleiben, sondern der Durchführung des Staatsbahnsystems ungesäumt weiteren Fortgang zu geben.

Dem Landtage wurden in seiner letzten Session (Anfang 1882) der Ankauf folgender weiterer Bahnen - Bergisch=Märkische, Thüringische, Berlin=Görlitzer, Cottbus=Großenhainer, Märkisch=Posener, Rhein=Nahe und Berlin=Anhaltische Eisenbahn - vorgeschlagen und der Landtag genehmigte diesen Ankauf nach verhältnißmäßig kurzer Berathung, da sowohl die Zahl der entschiedenen Gegner des Staatsbahnsystems wie auch ihr Widerstand erheblich in der Zwischenzeit abgenommen hatte.

Es wurden hierdurch dem Staatsbahnbesitz 3886 Kilometer neu zugeführt, so daß mithin der Gesammtbesitz des Staates an Eisenbahnen 15495 Kilometer (gegen 6199 bis zum Jahre 1879) beträgt; zugleich aber wurden noch etwa 76 Millionen Mark zur Vervollständigung und besseren Ausrüstung des Staatsbahnnetzes, ferner zum Bau von neuen Bahnen zweiter Ordnung (Sekundärbahnen, welche die im Innern der Provinz liegenden kleineren Städten mit den großen Hauptbahnen in Verbindung setzen sollen) etwa 52 Millionen Mark auszugeben beschlossen.

Durch diesen vom Landtage in der letzten Legislaturperiode bewirkten Erwerb von Privatbahnen hat sich der Etat der Betriebsausgaben der Eisenbahnen von 120 auf 277 Millionen Mark, der Etat der Betriebseinnahmen von 181 au 484 Millionen Mark vermehrt, während also die Betriebsausgaben um 157 Millionen gestiegen sind, steigern sich die Betriebseinnahmen um 303 Millionen Mark. Um diese dem Lande auf die Dauer nutzbar zu machen, ist bestimmt worden, daß soweit die Ueberschüsse über eine zur Deckung der allgemeinen Staatsausgaben festgesetzte Höhe hinausgehen, die Eisenbahnschulden bis zu ¾ Procent dieser Schulden amortisirt werden (sog. finanzielle Garantien), und ferner ist zur Wahrnehmung der wirthschaftlichen Interessen eine Organisation geschaffen, welche den Sachverständigen aus den Kreisen des Handels, der Industrie und der Landwirthschaft Gelegenheit gibt, sich über die Berücksichtigung der wirthschaftlichen Bedürfnisse in den verschiedenen Provinzen (Bezirksbahnrähte) und auch für den ganzen Staat (Landeseisenbahnrath) zu äußern, damit die Eisenbahnverwaltung stets in Kenntniß von allen Wünschen und Interessen bezüglich der Transportgebühren, Tarifvorschriften, des Betriebs und Bahnpolizeireglements gesetzt werde (sog. wirthschaftliche Garantien).








Quelle: Euskirchener Zeitung vom 19. Juli 1882
Archiv: Anton Könen Mechernich









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