Erlebnisse eines Buirer Eisenbahners in seiner 50-jährigen Dienstzeit
von Peter Müllenmeister




4. Eisenbahnunfall des D 23 Paris-Köln-Berlin-Warschau auf Bf Buir am 25. August 1929




Im Sommer 1929 wurden alle Wegeübergänge (Brücken) wegen erhöhtem Achsdruck verstärkt. Zu diesem Zweck wurden die Schienen, Schwellen und der Kleinschlag bis auf das Brückenmauerwerk entfernt. Die Brücken wurden durch schwere Eisenträger verstärkt und wieder befahrbar gemacht. Wegen dichter Zugfolge auf der Strecke Köln-Aachen mußten die Arbeiten an Sonntagen durchgeführt werden. Es war so, aß am ersten Sonntag das Gleis Aachen-Köln und am nächsten Sonntag das Gleis Köln-Aachen gesperrt wurde. Der Zugverkehr wurde durch Befahren des falschen Gleises aufrecht erhalten. Einige Brücken waren bis zum Spätsommer in Ordnung. Da die Brücken nicht mit voller Geschwindigkeit befahren werden durften, erhielten alle Züge auf dem letzen Haltebf einen Vorsichtsbefehl, mit 30 km die mit Signalen gekennzeichnete Umbaustelle zu befahren. Es waren wandernde Baustellen, je nachdem welche Brücke in der Bearbeitung war. Den Lokführern war dieser Zustand allgemein bekannt, wenn sie in Düren, Buir oder Sindorf einen Vorsichtsbefehl erhielten, zwischen Buir und Sindorf bei km 30,2 oder 30,4 je nachdem die Baustelle lag, wegen Brückenbauarbeiten nur mit 30 km Geschwindigkeit zu fahren.

Der 25. August 1929 war für den Bf Buir ein verhängnisvoller Tag.

Damals hatte ich Nachtdienst, vom Samstagabend 20 Uhr bis Sonntagmorgen 8 Uhr. Mein Ablöser, der spätere Bundesbahn-Insp. Radermacher (ein Schulkamerad von mir), war zuletzt 30 Jahre lang Bahnhofsvorsteher in Erkelenz, lebt dort heute in Ruhestand. Er ist der einzige noch lebende Zeuge des Unfalls D 23 neben mir.

Da wir bei den sonntäglichen Falschfahrten Routine hatten und ein Güterzug aus Richtung Horrem je nach seiner Belastung 30 oder 60 Wagen hatte und dann in Buir geteilt werden mußte, weil das Überholungsgleis 3 für die Fahrten auf falschem Gleis nach Sindorf beansprucht wurde. Um Vorplanen zu können, löste mein Ablöser mich morgens 10 Minuten früher ab, um fernmündlich bei Sindorf und Horrem Gewißheit über die Belastung des Zuges einzuholen, der gegen 8.30 Uhr in Buir eintreffen sollte.

Inzwischen war Unglückszug D 23 von Düren telegrafisch abgemeldet worden, der um 8.03 Uhr in Buir ankommen sollte, um auf dem falschen Gleis nach Sindorf weiterzufahren.

Nach der besonderen Betriebsanweisung (Betra), die für den Sonntag galt, sollte der Zug in Düren einen Vorsichtsbefehl erhalten, in Buir abweichend von der Fahrordnung nicht nach Gleis 1, sondern mit Geschwindigkeitsbeschränkung (40 km) in das Überholungsgleis 3 einfahren. An dem Sonntag war in Düren eine Festlichkeit. Der größte Teil des Stammpersonals der Fahrdienstleiter und Telegrafisten hatte Urlaub. Als Vertreter wurden Kräfte eingesetzt, die auf dem Dienstposten nicht bewandert waren. Der Fdl. saß als Personalsachbearbeiter auf dem Bahnhofsbüro und machte nun Dienst als Fahrdienstleiter und Aufsichtsbeamter. Der Telegrafist war normalerweise als Weichenwärter in einem Stellwerk Dw tätig. Vor der Einfahrt des D 23 in Düren schrieb der Telegrafist den Vorsichtsbefehl des zuletzt gefahrenen Eilzuges ab, der die Weisung hatte, zwischen Buir und Sindorf an einer Baustelle nur 30 zu fahren. Von der für den D 23 als erster Zug in Kraft getretenen neuen Betriebsanweisung (Betra), in Buir in das Überholungsgleis zu fahren, wußte er angeblich nichts. Der Fdl unterschrieb den falschen Vorsichtsbefehl und übergab ihn dem Zugf. zur Weitergabe an den Lokf. Dieser Lokf. war in Hamm stationiert und hatte am Vorabend den D 24 Warschau-Berlin-Paris von Hamm bis Aachen gebracht und hatte in der Nacht in Aachen seine Ruhezeit. Nach den Vorschriften mußte der Lokf. sich über seine Fahrstrecke von Hamm bis Aachen und zurück informieren, ob und welche Besonderheiten an diesem Tage (25.8.29) bestanden.

Das Langsamfahren zwischen Buir und Sindorf war ihm geläufig, weil er die Strecke turnusmäßig befuhr. Von dem Einfahren in Gleis 3 mit 40 km Geschwindigkeit und weitere Falschfahrt nach Sindorf wußte er nichts. Auf der Strecke Düren-Buir befanden sich mehrere Wegeübergänge (Brücken). Von Buir aus war die erste Brücke eine gemauerte Ziegelsteinbrücke mit gemauertem Geländer. Das Einfahrsignal stand ca. 50 m diesseits der Brücke. Die nächste Brücke war ca. 500 m entfernt, es war eine Bogenbrücke mit Eisengeländer. Diese Brücken spielten bei dem Unfall des D 23 eine große Rolle, denn der zweite Signalflügel war für Sekunden durch Brückengeländer verdeckt. Da das Vorsignal „Fahrt frei“ zeigte, fuhr der Zug mit 100 km, kam durch die letzte Brücke und sah nun das zweiflügelige Signal für die Fahrt in das Überholungsgleis. Die erste Reaktion des Lokf. war, die Schnellbremse zu bedienen. Die Weichen 17, 16, 15 lagen krumm für die Fahrt in das Überholungsgleis 3. Durch das Schnellbremsen war der gesamte Zug eine einzige starre Verbindung, und alles mußte biegen oder brechen. Lok und Tender schlugen um, von den 13 vierachsigen Wagen des Zuges blieben die letzten 5 auf den Schienen, alle anderen schlugen um und schoben sich ineinander, zwei Wagen lagen quer zu den Gleisen in die Böschung gepreßt. Die Lok und fast alle Wagen waren stark zertrümmert.

Einige Minuten vor dem Unfall, der Zug wird um diese Zeit den 3 km entfernten Block Merzenich durchfahren haben, hat sich folgendes ereignet:

Dem Fahrdienstleiter Radermacher in Buir kam vor der Signalfreigabe für den D 23 in den Sinn, bei dem Fahrdienstleiter in Düren anzufragen, ob der D 23 Vorsichtsbefehl für Buir mit 40 km Geschwindigkeit noch gegeben habe. Er erhielt die Antwort „JA“, der Zug hat Vorsichtsbefehl. Daraufhin bediente er das Befehlsabgabefeld am elektr. Blockwerk zum Stellwerk Bw.

Als der Weichenwärter den Befehlsempfang erhielt, frug er den Fdl Radermacher am Telefon: „Hat der Zug Vorsichtsbefehl? Seine Frage beantwortete der Fdl mit „JA“. Als das Signal auf Fahrt stand, „es drehte sich alles um Minuten“, sah der Wärter den Zug kommen. Als er bemerkte, daß der Zug entgleiste, sprang er aus dem 10 m hohen Stellwerkfenster hinaus auf das Dach eines Nebengebäudes.

Wäre in Düren ständiges Personal gewesen, hätte der D 23 bestimmt den richtigen Vorsichtsbefehl erhalten, es wäre nicht zu dem Unfall gekommen. Auch hätte Radermacher den Unfall in letzter Minute verhindert, wenn der Dürener Fdl ihm gesagt hätte, der Zug habe einen Vorsichtsbefehl für die Strecke Buir-Sindorf, auf der Strecke 30 km zu fahren. Dies ist bei den späteren Gerichtsverhandlungen eindeutig festgestellt worden. Fdl Radermacher wurde später wegen seines umsichtigen Verhaltens belohnt trotz des schweren Unfalls, den er nicht verhindern konnte unter den gegebenen Umständen.

Nach meiner Ablösung am Unfalltag blieb ich noch auf der Befehlsstelle und hörte alle Gespräche mit an. Weil an Sonntagen mit Gleissperrungen niemals Hände zuviel waren, war mein Vorgänger, der damalige Bahnhofsvorsteher G. ebenfalls schon vor 8 Uhr auf der Befehlsstelle anwesend. Er gab sofort nach Eintritt des Unfalls die SOS-Meldungen zum Herbeirufen von Hilfszügen, Arzt und Gerätewagen und anderer Helfer.

Gegen 8 Uhr, als das Einfahrsignal auf Fahrt stand, ging ich zu meiner Dienstwohnung. Doch als ich 10 m weg war, geschah der Unfall. Man hörte ein außergewöhnliches Getöse, das Dampfzischen der umgestürzten Lok, eine neue Lok der Serie 01, von denen nur wenige in Betrieb waren. Sofort ging ich zurück zu meinem Kollegen Radermacher, der schockiert war und besänftigte ihn mit den Worten: „Hier ist alles richtig und vorschriftsmäßig gemacht worden, uns trifft keine Schuld“. Als Eisenbahner weiß man, daß Lokf. Fdl, Schrankenwärter u. anderes Betriebspersonal mit einem Bein im Grab und mit dem anderen im Gefängnis stehen, wenn etwas passiert.

Daraufhin nahm ich mir, als ausgebildeter Eisenbahnsanitäter, aus dem Verbandskasten so viel Verbandszeug, wie ich tragen konnte und lief zur Unfallstelle. Vom Bahnhofsgebäude sah man deutlich den Haufen Trümmer des Zuges, daher kam der Bahnhofsvorsteher ebenfalls zur Unfallstelle, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unfalles zu machen, um weitere Hilfe zu alarmieren. Der erste Eindruck an der Unfallstelle verschlug einem die Sprache. Der Packwagen lag noch auf einem 5 m hohen Feldweg neben der Bahn. Die Lok lag auf der Seite, der Dampf zischte fürchterlich. Ich dachte an eine evtl. Kesselexplosion. In der Nähe der Lok lag der umgestürzte Postwagen, aus dem die Insassen von den Fenstern aus um Hilfe schrien. Der Heizer der Lok begann das Feuer der Lok rauszuwerfen. Den Lokf. habe ich nicht gesehen. Ihm mußte ein Arm amputiert werden. Der erste 3. Klasse Wagen lag auf der Seite, das Dach war vollständig weggerissen, alle Leute waren schwer verletzt und schrien um Hilfe. Mit einem unserer Weichenwärter hatten wir eine Leiter am Wagen gelöst, um den Verletzten helfen zu können. In diesem Wagen befanden sich viele polnische Gastarbeiter aus Frankreich. Es roch sehr übel in den Wagentrümmern, die meisten Leute hatten Knochenbrüche und andere schwere Verletzungen.

Einem Mann, schätzungsweise 30 Jahre alt, war ein Arm ausgerissen worden, man sah den offenen blutenden Brustkorb. Er nahm mich mit der anderen Hand und sagte mir: „Schreiben sie schnell meine Adresse auf, ich komme aus New York über Paris und will zu meiner Braut nach Frankfurt zur Verlobung. Ich heiße Max Hermann.“ Den Namen der Braut weiß ich leider nicht mehr. Ich hatte Mühe, meine Hand zum Schreiben zu befreien, denn der Mann hielt sie krampfhaft fest. Nachdem ich meine Hand frei hatte, nahm ich von der Erde ein Stück Zeitungspapier und schrieb alles nieder. Nachmittags gaben wir vom Bahnhof aus Telegramme an die Angehörigen der Toten und Verletzten. Max Hermann zählte um diese Zeit zu den Toten.

Seit Bekanntwerden des Unfalls waren viele Helfer, Feuerwehren, Sanitäter, Mitglieder einer Gruppe des Stahlhelms, (Patrioten), die an dem Morgen eine Übung hatten und viele Schaulustige in der Nähe der Unfallstelle. Zunächst wurden die Verletzten aus den Trümmern geborgen und auf den neben der Bahn befindlichen Garben eines Getreidefeldes hingelegt, bis sie ärztlich behandelt und abtransportiert wurden. Man sah Ärzte, Sanitäter und Geistliche, die sich um sie bemühten.

Kurze Zeit später ging ich an dem Feld vorbei und sah den Mann „Max Hermann“ tot daliegen, der mir seine Adresse vorher gegeben hatte. Nach 3 Tagen kam die Braut desselben nach Buir, um Näheres über ihren Bräutigam zu erfahren. Diesen Vorfall und den Namen „Max Hermann“ New York vergesse ich nie, solange ich lebe.

Bei dem Unfall waren 13 Tote, 40 Schwer- und 60 Leichtverletzte zu beklagen. In Krankenhäusern starben weitere 5 Personen. Die Reichsbahn und spätere Bundesbahn mußte hohe Entschädigungen an Verunglückte zahlen. Es waren überwiegend Ausländer, die den Zug benutzten. In einem umgeschlagenen Schlafwagen war eine franz. Tänzerin identifiziert worden, sie lag mit ihren Goldpantoffeln tot auf dem Boden. Ein estnischer Botschaftsoffizier aus Paris mußte seine Frau tot nach Haus überführen lassen. Die Aufräumungsarbeiten dauerten 3 Tage, bis man eingleisig bis Düren fahren konnte. Alle Krankenhäuser unserer Nachbarschaft hatten an dem Tage viel zu tun. Die Getöteten des Unfalls sind später teilweise in einer Massenbeerdigung in Buir beigesetzt oder in die Heimatorte überführt worden.

Am Abend des Unfalltages (ich war vom vorhergehenden Nachtdienst) und dem Arbeiten an der Unfallstelle hundemüde), mußte ich um 20 Uhr meinen Dienst als Fahrdienstleiter wieder übernehmen. Gegen Mitternacht lief der Abendzug aus Köln hier an. Der Lokf. kam zu mir und zeigte mir einen Vorsichtsbefehl, den er morgens in Düren erhalten hatte, der den gleichen Wortlaut hatte, wie der des D 23. Dieser Personenzug sollte fahrplanmäßig 10 Minuten hinter dem D 23 abfahren und sollte 8.15 Uhr in Buir sein. Weil Buir gesperrt war, wurde der Zug über Neuß-Köln nach Buir gefahren. Der Lokf. sagte mir, daß er von dem Falschfahren ab Buir unterrichtet war und trotz des falschen Vorsichtsbefehls richtig gefahren wäre. Der Lokf. war in Düren stationiert.

Der damalige Fahrdienstleiter Radermacher, Insp. i.R. und ich sind die einzigen noch lebenden Eisenbahner-Zeugen des Unfalls. Ich besitze noch ein Sonderamtsblatt der BD Köln und eine Unterrichtsfachzeitschrift, die den Buirer Unfall behandeln. Nach dem Buirer Unfall gab es eine Menge Neuerungen signaltechnischer Art, Signalabstände, innnerdienstliche Betriebsvorschriften und das Dreibegriff Vorsignal, das man bis dahin nicht kannte.

Der 25. Aug. 1929 ist für mich immer eine traurige Erinnerung.




5. Die Zeit von 1930 - 1936 und Ernennung zum Bfs-Vorsteher

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