Granaten-Schmiede für die Westfront
Mai 1920: Explosion zerstörte Munitionsfabrik „Op Kehr“

Von Franz Albert Heinen

Arbeit und Wohlstand sollte die große Sprengstofffabrik bei Kehr der armen Eifel-Bevölkerung im Raum Hallschlag-Losheim bringen. Das jedenfalls hoffte der „Verein“ zur industriellen Entwicklung der Südeifel e. V.“, als er 1912 die ersten Pläne zum Bau einer Dynamitfabrik bei Hallschlag entwickelte. Noch während der Planungsphase begann der Erste Weltkrieg, alle Produktionskraft wurde für die Kriegswirtschaft gebraucht: Statt einer Dynamitfabrik entstand in Kehr die größte Granatenschmiede weit und breit. Bis zu 2.100 Männer und Frauen produzierten Granaten aller Kaliber für die Truppen des Deutschen Reiches. Vom riesigen Werk in der Gemarkung „Auf dem Gericht“ zeugen heute nur noch spärliche Baureste, nachdem die gesamte Anlage durch eine verheerende Explosionskatastrophe im Mai 1920 zerstört wurde.


Munitionsfabrik „Op Kehr“: Größter Arbeitgeber in den Jahren 1915 bis 1918 in der Südeifel

Rund 70 Jahre lang wuchs buchstäblich Gras über das chemisch verseuchte und mit Munition übersäte Gelände. Anfang 1992 begann unter umfassenden Sicherheitsmaßnahmen die Sanierung des 22 Hektar großen Gebietes, auf dem auch heute noch unter anderem mehrere Tausend Giftgas-Granaten vermutet werden.

Im Auftrag des Mainzer Innenministeriums, das die Federführung bei der Sanierung übernommen hat, faßte die Kasseler „Planungsgesellschaft Boden & Umwelt“ (PGBU) vor Sanierungsbeginn die historische Entwicklung des Werkes zusammen. Die PGBU-Untersuchung lieferte die wesentlichen Informationen zu diesem Bericht.


2100 Frauen und Männer waren während ...


... des ersten Weltkrieges in der Fabrik beschäftigt

Im Vorfeld des Fabrik-Baus gab es massive Probleme, denn der damals marktbeherrschende „Dynamit-Trust“ versuchte mit allen Mitteln, die unabhängige Konkurrenz in der Eifel zu verhindern. Unter anderem ließ das „Dynamit-Kartell“ Teile des für den Bau erforderlichen Geländes aufkaufen, um das Werk zu verhindern. Auch machte der Trust seinen Einfluß bei den Banken geltend, die den Eifeler Sprengstoffwerken daraufhin keinen Kredit mehr gewährten. Schließlich kapitulierten die Eifeler und unterwarfen sich zumindest zeitweise dem Dynamit-Kartell. Erst durch die Aufstockung des Stammkapitals auf 8.500.000 Reichsmark wurde es möglich, den Vertrag mit dem Trust wieder zu lösen.

Finanzielle Hilfe gab es von der Berliner Regierung. Dort war das Waffen-Munitionsbeschaffungsamt (“Wumba“) für die Eifeler Granatenschmiede zuständig.

Am 2. Januar 1915 wurde mit dem Bau des Werkes östlich der Straße Losheim-Prüm (heute Bundesstraße B 265) auf einem Höhenrücken begonnen. Das gesamte Werksgelände umfaßte etwa 156 Hektar Land, wovon jedoch rund 22 Hektar bebaut wurden. Die übrigen Flächen diensten als Sicherheitsstreifen.

Am 16. Dezember 1916 wurde die „Espagit-Aktiengesellschaft“ gegründet, die die Geschäfte der Eifeler Sprengstoffwerke übernahm. Kriegsbedingt entwickelte sich der Bau der weitläufigen Produktionsanlagen nicht so zügig, wie die Aktionäre gehofft hatten. Dennoch lassen die Investitionen auch heute noch ahnen, welche Dimensionen das Werk hatte. Die Trierer Handelskammer notierte, daß bis zur Jahresmitte 1916 - anderthalb Jahre nach Baubeginn - bereits Gebäude im Wert von 1,9 Millionen Reichsmark errichtet worden seien. Außerdem seien Gleis- und Wegeanlagen für weitere 360.000 Reichsmark entstanden.

Bis zum Kriegsende wurde mit Hochdruck weiter an den Produktionsanlagen gebaut. Dazu kamen zahlreiche Wohnhäuser, Barackenlager, Sicherheitseinrichtungen, Werkstätten, Lager und vieles mehr, vom „Lokomotivschuppen“ bis zum „Massen-Speiseraum“, von der „Beamten-Villa“ bis zur „Unterkunft für zwangsverpflichtete Kriegsgefangene“.


Ein kanadischer Besatzungsoffizier vor einem Granatenstapel in Kehr; kurz vor der Explosion

Indessen machten sich die kriegsbedingten Probleme immer krasser bemerkbar. So stand zeitweise die gesamte Anlage, weil es unmöglich war, die für die Produktion erforderlichen Kohlen in die Eifel zu bringen.

Produziert wurden hauptsächlich die Sprengstoffe TNT und Pikrinsäure sowie Dinitrobenzol (DNB). Sie wurden an Ort und Stelle in werkseigenen Füllstellen in Granaten diverser Kaliber abgefüllt.

Ab 1917 wurde auch Beutemunition von der Westfront nach Kehr gebracht, um sie dort zu delaborieren: Zünder entfernen, Sprengstoff herausnehmen und das wertvolle Metall wiederverwerten gehörte nunmehr ebenfalls zu den Aufgaben der „Espagit“.

Zwischen Dezember 1916 und September 1918 wurde die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter konstant mit 2.100 angegeben, bei Rohstoffmangel oder anderen Problemen sank die Zahl kurzfristig auf 1.300 ab.

Die Arbeiter kamen zum Teil aus anderen Sprengstoffabriken oder wanderten von der Jünkerather Gewerkschaft (heute Dernag) ab. Die Arbeiterinnen kamen entweder aus den umliegenden Ortschaften oder aus norddeutschen Großstädten, wo sie „von der Straße aufgelesen für die Arbeit im Werk zwangsrekrutiert“ worden waren. Diese als „Hamburger Mädels“ in der Erinnerung mancher Zeitzeugen haften gebliebenen Frauen sorgten noch lange Zeit später in der Hocheifel für Gesprächsstoff. Es wurden aber auch ausländische Zwangsarbeiter und Arbeiterinnen eingesetzt, darunter beispielsweise russische Kriegsgefangene. Im Herbst 1917 wurden 300 polnische Arbeiter zur Fertigstellung der Gleisanlage angefordert. Zeitweise wurden auch Zuchthausinsassen unter Bewachung nach Hallschlag abkommandiert.

Die Unterkünfte für die Arbeiter waren auch nach damaligen Vorstellungen menschenunwürdig. Ein zeitgenössisches Schreiben hat der Nachwelt die Klagen überliefert, daß die Frauenunterkunft - die ehemalige Russenbaracke - „vor Schmutz erstarrt“. Die Badeeinrichtungen seien ungenügend, die „Aborte befinden sich in einem geradezu unbeschreiblichen Zustande“.

Der Bericht der Fabrikpflegerin läßt erkennen, welche Arbeitsbedingungen damals in der Giftküche „Op Kehr“ gang und gäbe waren. Gase machten beispielsweise die Arbeit an den Granatenfüllstelle lebensgefährlich. Dort mußten die Frauen während der sechsstündigen Arbeitszeit einen „Respirator“ tragen, eine Art Schutzmaske. Dennoch kam es immer wieder zu Vergiftungen mit zum Teil tödlichem Ausgang.

Auch die Arbeit in der Pikrinsäureabteilung war höchst ungesund. Durch die enorme Staubentwicklung an den Pressen bekamen die Frauen eine gelbe Hautfarbe und Hautausschläge. Oft wurden auch Magenschwellungen festgestellt. Als Schutzmaßnahme wurden mit Wate gefüllte Mullsäckchen zur Bedeckung von Mund und Nase eingeführt. Dennoch war die Todesrate gerade bei den gelb gewordenen Frauen dramatisch hoch.

Die Frauen in den Klebehäusern wurden in andere Abteilungen versetzt, wenn das heiße Paraffin die Hände „allzu stark angegriffen“ hatte.

Die Fabrikpflegerin hatte allerdings eine recht simple Erklärung für die massenweise auftretenden Erkrankungen: Sie führte die typischen Vergiftungen in erster Linie auf „unsittlichen“ und „unhygienischen Lebenswandel“ der Arbeiterinnen zurück.


Nach der Explosion im Mai 1920 ...


.... war die Munitionsfabrik völlig zerstört

Trotz dieser bekannten Probleme war die ärztliche Versorgung äußerst schlecht. Nur zweieinhalb Stunden täglich stand im Werk für die 2.100 Beschäftigten ein Arzt zur Verfügung. Diese selbst für Kriegszeiten bedrückenden Zustände riefen den Protest der Allgemeinen Ortskrankenkasse Prüm hervor. Die Assekuranz beschwerte sich massiv, daß die mangelhafte ärztliche Versorgung zu hohen Kosten führe.

In einem Schreiben an den Regierungspräsidenten klagt die AOK, es komme „bis auf den heutigen Tag vor, daß schwangere Mädchen zur Arbeitsaufnahme zugelassen, daß hochgradig tuberkulöse Personen und sonstige mit chronischen Leiden behaftete Leute, die absolut nicht in der Lage sind, die schwere Arbeit in der Munitionsindustrie zu verrichten, Aufnahme finden“.

Ab 1917 entstand bei der „Espagit“ neben der Granatenproduktion ein zweiter Geschäftszweig. Die Beutemunition von der Westfront wurde in großen Mengen zu „Delaborierung nach Kehr gebracht. Die Granaten aller Kaliber wurden geöffnet, die Zünder - sofern noch vorhanden - wurden entfernt, dann wurde der Sprengstoff mit einer Art Dampfstrahlgerät ausgedampft, das wertvolle Edelmetall wurde wiederverwertet.

Nach Kriegsende, als die Munitionsproduktion bei der „Espagit“ zum Stillstand gekommen war, wurde die „Delaborierung“ in großem Stil unter Aufsicht der alliierten Besatzung fortgeführt. Bis zu 500.000 Granaten durften gleichzeitig auf dem Werksgelände gelagert werden. Rund 1.000 Arbeiter waren mit der „Delaborierung“ beschäftigt, die oft auch nur in ganz gewöhnlichem Ausbrennen der Granaten bestand.

Dabei gab es - wie beim vorhergehenden Produktionsprozeß - häufig Unglücke. Im Februar 1920 hielt die Espagit-Direktion in einem internen Schreiben fest, daß es wegen der andauernden Explosionen zu einer unhaltbaren Lage gekommen sei. Keiner der Fachleute traue sich mehr an das Ausbrennen heran, „alles zittert um das Leben“, und es ist nicht abzustreiten, daß die bisherigen Explosionen viel Anlaß dazu geboten haben“.

Offenkundige Schlamperei gab es auch bei der Lagerung der riesigen Munitionsberge, die dort per Eisenbahn angeliefert wurden. Weder wurden die Granaten in der durch Erdwälle gesicherten Zone gelagert, noch wurden die brisanten Geschosse abgedeckt. Vielmehr lagen die Granaten „in grösseren Stapeln dicht nebeneinander auf dem freien Erdboden“, wie die Gewerbeaufsicht notierte.

Solche Schlamperei führte am 29. Mai 19230 zu der verheerenden Explosions-Serie, die das Werk fast vollständig vernichtete. Zunächst entstand ein Feuer im Bereich der Delaborationsstelle, was zunächst zu kleineren Explosionen führte, dann flog das Granatenlagen in die Luft, wodurch ein Sprengtrichter von 30 Metern Durchmesser und acht Metern Tiefe entstand. Später explodierte die Zylinderstation, in der heiße Abfallsäuren gespeichert waren. Die acht Meter hohen Stahlzylinder mit Säure wurden durch den Explosionsdruck teilweise bis fast nach Hallschlag geschleudert. Bis zu 40 Zentner schwere Brocken flogen mehrere hundert Meter weit. Abends gegen 20 Uhr erfolgte die fünfte und letzte schwere Explosion, durch die der Lagerkessel der Säureeinstellung zerstört wurde. Dieser Kessel enthielt rund 70.000 Kilo Säureschlamm. Durch die Explosion entstanden an Häusern im Bereich zwischen Losheimergraben, Manderfeld, Hallschlag und Scheid Schäden in Höhe von 240.000 Mark. Sogar in Kronenburg wurden Hausdächer abgedeckt.

Trotz der gewaltigen Explosion forderte der Unfall nur ein Todesopfer. Da zwischen dem Ausbruch des Feuers und der ersten Explosion einige Zeit verging, hatten die Bewohner Zeit, weit genug entfernt in Deckung zu gehen.

Zurück blieb eine völlig zerstörte Fabrik, von der heute noch zwei Nebengebäude als Ruine erhalten sind. Alle übrigen Bauwerke sind in den zwanziger Jahren im Zuge der Aufräumungsarbeiten unter Aufsicht der Gewerbeaufsicht eingeebnet worden. An der Erdoberfläche erkennt man allerdings noch Grundmauern und Kanalsysteme.

Durch die Wucht der Explosion wurde ein Teil der Munition, darunter vermutlich auch Tausende Giftgasgranaten, nicht zerstört, sondern nur in einem Umkreis von mehreren Kilometern verstreut. Was an der Erdoberfläche an Gasgranaten gefunden wurde, wurde eingesammelt und im Werksbereich vergraben.

Bis 1928 befaßten sich verschiedene Unternehmer mit den Aufräumungs- und Entmunitionisierungsarbeiten. Dann erklärte die Gewerbeaufsicht das Gelände für „entmunitioniert“ und schloß die Akten. Um das Areal wurde ein Zaun gebaut, das Gelände später im Außenbereich landwirtschaftlich genutzt, der Kernbereich wurde als Weideland verpachtet.


Der Explosionstrichter war acht Meter tief und 30 Meter breit

Doch unter der dünnen Grasdecke verbirgt sich eine gewaltige Altlast. Angesichts der Gefahren durch die in 70 Jahren angerosteten Gasgranaten verfügte die Mainzer Regierung den sofortigen Beginn der Entmunitionierung, nachdem vor einigen Jahren diese Rüstungsaltlast wieder bekanntgeworden war und tatsächlich Gasgranaten gefunden wurden.

Inzwischen wurden Sperrgebiete eingerichtet, Untersuchungen angeordnet, die Bevölkerung erhielt Primitiv-Gasmasken (sogenannte Fluchthauben) und eine Spezialfirma bekam den Auftrag, in einer auf mehrere Jahre angelegten Suche alle Munition zu entfernen. Allein diese Entmunitionierung wird weit mehr als zehn Millionen Mark kosten.

Anschließend soll die Sanierung der chemischen Altlast im Werksgelände beginnen. Bis heute weiß noch niemand genau, ob eine solche Sanierung überhaupt möglich ist. Immerhin handelt es sich um hektarweise, schwerst kontaminiertes Erdreich: Das Gift Arsen läßt sich in alarmierenden Konzentrationen nachwiesen, der Sprengstoff TNT liegt 70 Jahre nach der Explosion immer noch in dicken Platten im Werksgelände offen herum. Weite Teile des Bodens sind derart verseucht, so daß selbst nach einer aufwendigen Sanierung nie wieder eine landwirtschaftliche Nutzung möglich sein wird.

Quelle: Kreis Euskirchen Jahrbuch 1993

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