Ein Frauenberger Bergmann

Von Josef Pick

Ich kann mich noch gut an eine Gesangstunde de Dorfschule um die Mitte der dreißiger Jahre erinnern, als wir das Bergmannslied „Glück auf! Glück auf! Der Bergmann kommt!“ einübten und fasziniert vom Text dieses Liedes unseren Lehrer nach Einzelheiten der Bergmannsarbeit unter Tage befragten. Gespannt und begeistert lauschten wir seinen Ausführungen, denn er wußte schon eine Menge hierüber zu erzählen. Am Schluß erwähnte er noch, daß der „Im Altwerk“ wohnende Georg Nagen (im Dorf als Nagels Schorsch bekannt) ein richtiger ehemaliger Bergmann aus dem Ruhrgebiet sei und uns bestimmt noch weitere interessante Einzelheiten über den Beruf der Bergleute und einige Erlebnisse erzählen könnte.

Unserem Wissensdurst folgend, suchten mein Freund Hubert und ich noch am selben Tage den ehemaligen Bergmann auf, der uns freundlich begrüßte, erzählten ihm, daß wir in der Schule das Bergmannslied gelernt hätten und baten ihn, er möge uns doch etwas Interessantes über die Arbeit der Bergleute und über die Erlebnisse während seiner früheren Tätigkeit als Bergmann erzählen. Nagel, der als Kinderfreund bekannt war, freute sich über unser Ansinnen, führte uns in die Stube, und mit einem: „Setz euch da uff de Bank!“ begann er sofort mit seinen Ausführungen. Noch heute, nach mehr als fünfzig Jahren, könnte sich seine Erklärungen und Erzählungen nachvollziehen - so interessant waren sie! Wir hörten etwas von der Ausbildung der Knappen, von Kumpels, von Fördertürmen, Schächten und Stollen, von Waschkauen, von Schlagenden Wettern, von Pferden, die unter Tage die Kohlen-Loren zum Förderkorb ziehen und zeitlebens unter Tage bleiben, von Bergmannskapellen in schmucker Uniform und von den feierlichen Begräbnissen tödlich verunglückter Bergleute. Die Tätigkeiten der Hauer und Steiger - gepaart mit eigenen Erlebnissen - wurden uns erklärt. Dabei schwelgte er förmlich in seinen Erzählungen. Und zum Abschluß holte er noch seine Grubenlampe hervor, die er als Andenken an seine Bergmannstätigkeit wie ein Heiligtum hütete. Er stellte die Lampe auf den Tisch, entzündete sie und machte uns klar, daß diese Lampe nicht nur als Lichtquelle diente, sondern auch die drohende Gefahr eines Schlagenden Wetters erkennen ließt. Fragen über Fragen mußte er uns beantworten, wobei er häufig die uns zu jener Zeit noch unbekannten Fremdwörter „effektiv“ und „logisch“ gebrauchte. Als wir uns von ihm mit Dank verabschiedeten, hatten Hubert und ich den Entschluß gefaßt, später einmal Bergmann zu werden.

In Vorbereitung auf unseren geplanten Bergmannsberuf nahmen wir tags darauf Spaten, Hacke und Schaufel zur Hand mit der Absicht, in dem zwischen Frauenberg und Irresheim gelegenen Ödland „Juden-Heidchen“ einen Schacht mit Stollen zu graben. Nachdem wir eine geeignete Stelle gefunden hatten, krempelten wir unsere Hemdsärmel hoch, spuckten in die Hände, und der „Bergbau“ konnte beginnen! Wir gruben, hackten und schaufelten in wechselnder Folge. Dabei entwickelten wir eine Energie und Ausdauer, die wir bei häuslich auferlegten Arbeiten nicht im geringsten aufgebracht hätten. Wir hatten ziemlich schnell eine Tiefe von einem Meter im Quadrat erreicht, machten eine Pause, um das weitere Vorgehen zu besprechen und legten dann weiter los. Als wir die Tiefe von ca. 1,50 Meter erreicht hatten, und Hubert den „Abraum“ (wir gebrauchten die uns von Nagel vermittelten Fachausdrücke) nach oben beförderte, rief er plötzlich: „Wir sind 'fündig' geworden, ich bin auf ''Braunkohle' gestoßen!“ „Laß mich mal rein!“ rief ich zurück. Hubert krabbelte heraus, ich sprang hinein, schaufelte weiter, entdeckte weitere „Braunkohle“, bis mich plötzlich ein Totenschädel mit seinen Augenhöhlen „anstarrte“. Mit einem Schreckensschrei sprang ich aus der Grube, lief voller Schrecken davon. Hubert hinter mir her, noch nicht wissend, was ich entdeckt hatte. Außer Atem gelangten wir auf den Irresheimer Weg, wo ich Hubert erzählte, daß wir einen Toten gefunden hätten. Als zufällig der Bäckergeselle mit umgehängtem Brötchenkorb vorbeikam, erzählten wir ihm von unserem grausigen Fund. Der Bäcker war furchtlos, er setzte den Korb ab, ging mit uns zur Grube, sprang hinein und schaufelte mit archäologischer Sorgfalt weiter, legte vermodertes Holz beiseite (von uns als „Braunkohle“ identifiziert), wies auf das freigelegte Skelett und erklärte uns, daß wir das Grab des Juden Levy geöffnet hätten. Die Ehrfurcht vor dem Toten gebot uns, das Grab wieder zuzuschaufeln, denn der Bäckergeselle erwähnte noch, daß man die Grabesruhe der Toten nicht stören dürfe. Hubert und ich waren derselben Meinung, bedauerten aber, daß unser „Bergwerk“ nicht zustande gekommen war. Wir wußten nicht, daß das „Juden-Heidchen“ vor vielen Jahren als Begräbnisstätte für jüdische Mitbewohner von Frauenberg vorgesehen war. Das nicht als Friedhof zu erkennende, zum Teil mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Flurstück wurde häufig von Kindern zum Austragen von Spielen und sogar zum Buddeln von Erdbehausungen benutzt. Wie meine Mutter erzählte, konnte sie sich noch an das Begräbnis des Juden Levy erinnern, an dem sie vor der Jahrhundertwende als Schulkind teilgenommen hatte. Levy betrieb in der heutigen Nideggener Straße (früher Kölner Straße) eine kleine Gemischtwarenhandlung und war der letzte jüdische Einwohner von Frauenberg und vermutlich auch der einzige Jude, der im „Juden-Heidchen“ seine letzte Ruhe fand, die leider von uns „Bergleuten“ unbewußt gestört wurde.


Frauenberg um 1935: Blick aus der Bachstraße auf den Kirchberg (Annostraße)
Reproduktion Kreisbildstelle

Wenige Tage später traf ich Nagel in seinem am Bleibach gelegenen Garten. Er trug - wie immer - schwarzglänzend gewichste Gamaschen und eine sogenannte Prinz-Heinrich-Mütze. Sein nach Kaiser-Wilhelms-Art gezwirbelter Schnurrbart, sein Gesichtsausdruck, seine Gestik und seine Ausdrucksweise - eine Mischung von Frauenberger Dialekt und Ruhrgebiets-Deutsch - sowie sein Verständnis für Bubenstreiche machten auf uns Kinder einen gewinnenden Eindruck. Ich erzählte ihm unser Mißgeschick vom „Bergbau“ und frug ihn, wie man sich am besten auf einem Bergmannsberuf vorbereiten könnte. Er lachte, überlegte kurz und meinte, wir sollten besser unseren nächsten Versuch im Schlehenbusch unternehmen. Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs stellte ich ihm die von mir schon längst beabsichtigte Frage, wie er denn als Bergmann nach Frauenberg gekommen sei. Mit der Einleitung: „Nun, ja!“ erzählte er mir, daß er in der Nähe von Recklinghausen im Ruhrgebiet beheimatet sei und nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Bohrkolonne der Bergwerks-AG nach Frauenberg verlegt worden sei. Bergwissenschaftlichen Berechnungen und Messungen hätten ergeben, daß in dem Flurbereich zwischen Frauenberg und Dürscheven größere Schichten Steinkohle vermutet worden waren, und man hätte deshalb in dem Wäldchen „In den Elderen“ (In den Erlen) eine Versuchsbohrung niedergebracht. Die zur Kolonne gehörenden Bergleute seien bei Privatleuten in Frauenberg untergebracht gewesen, wobei er bei den Geschwistern Balduin einquartiert worden sei. Leider sei man bei der Versuchsbohrung nicht fündig geworden, da man in einer Tiefe von 150 Metern auf Fließsand stieß und das Vorhaben aufgegeben werden mußte. Während die Kolonne ins Ruhrgebiet zurückkehrte, sei er in Frauenberg „fündig“ geworden und - wie er sich ausdrückte - „kleben geblieben“, denn er hatte - wie ich später zuhause erfuhr - Balduins Trinchen, die Schwester des Totengräbers, geheiratet. Und da er hierdurch seinen liebgewonnenen Beruf nicht mehr ausüben konnte, hatte er sich eine Beschäftigung bei der Euskirchener Zuckerfabrik Pfeifer & Langen gesucht.


Bubenstreiche

Nagels Kinderfreundlichkeit veranlaßte uns, ihn gelegentlich über die Planung von Bubenstreichen zu informieren, weil er uns nicht selten für deren Ausführung sogar noch weise Ratschläge gab. Zu einem beliebten Bubenstreich zählte damals das abendliche Klingeln an Haustüren, um anschließend schnell zu verschwinden und aus einem sicheren Versteck heraus schadenfroh die Reaktion der genarrten Hausbewohner zu beobachten. Nagel meinte, das Klingeln wäre effektiver, wenn man zwischen Klingelknopf und Gehäuse ein angespitztes Streichholz stecken würde. Diesem Rat folgend hatte ich ein Streichholz angespitzt, um noch am selben Abend hinter der Kirche mein Glück zu versuchen. Ich steckte das Streichholz zwischen Klingelknopf und Gehäuse, es klingelte nur kurz, weil das Streichholz nicht stecken blieb. Beim zweiten Versuch war ich nur noch auf das erneute Befestigen konzentriert, drückte zum besseren Halt das Streichholz noch tiefer in den Klingelknopf und ließ dabei das Dauerklingeln mit den möglichen Folgen völlig außer acht. Meine „Arbeit“ wurde jäh unterbrochen, als plötzlich die Haustür aufgerissen wurde, und - schneller als ich denken konnte - der Hauseigentümer mir mit einem „Klatsch“ eine saftige Ohrfeige verpaßte, so daß ich die vierstufige Haustreppe hinunterflog, mich auf meinem Hintern neben der Treppe wiederfand, und es bei mir im Kopf „klingelte“. Als ich einige Tage später das fehlgeschlagene Klingeln Nagel erzählte, bedauerte er mich und meinte, mein Verhalten wäre nicht effektiv genug gewesen, und ich hätte daher als logische Folge die Ohrfeige kassiert. Ab diesem Tage hatte ich die Fremdwörter „effektiv“ und „logisch“ bestens begriffen.

Weil Bergleute unter Tage nicht rauchen dürfen, hatte Nagel - wie viele seiner früheren Kumpel - sich als Ersatz für das Rauchen den Genuß von Kautabak angewöhnt und diese Gewohnheit auch später beibehalten. Eines Morgen, als Hubert und ich als Meßdiener auf dem Wege zur Kirche waren, begegneten wir Nagel, als er soeben seine Kautabakdose von „Grimm & Triepel“ öffnete, sich mit dem beigelegten kleinen Blechgäbelchen ein Priem nahm und diesen hinter die Backenzähne schob. Wir waren bei ihm stehengeblieben, hatten den fast zeremoniell ablaufenden Vorgang interessiert verfolgt und ihn gefragt, was das für ein Zeug sei. Auf seine Gegenfrage: „Wollt ihr mal probieren? Schmeckt fast wie Lackritz!“, willigten wir ein, denn in jener Zeit kannten wir weder Kautabak noch dessen Geschmack. Nagel reichte jedem von uns mit dem Gäbelchen ein Stück Kautabak mit der Bemerkung, diesen „zwischen die Kiemen“ - womit er die Backentasche meinte - zu schieben und ab und zu darauf zu beißen. Wir befolgten seine Anweisung und glaubten anfangs, die Geschmacksrichtung Lakritz könnte in etwa stimmen. Als der Geschmack jedoch intensiver wurde, in eine andere Geschmacksrichtung umschlug, und schließlich wie Feuer auf der Zunge und im Rachen brannte, waren wir bereits in der Sakristei. Und da wir nicht wußten, wohin mit dem Zeug, hatten wir beide den Kautabak der Einfachheit halber kurzerhand hinuntergeschluckt. Daß dies ein großer Fehler war, sollten wir bald zu spüren bekommen. Kurz vor der „Opferung“ verzog Hubert sein Gesicht, bückte sich nach vorne, hielt sich den Bauch fest, eilte so schnell er konnte nach draußen und erbrach sich gegen die Friedhofsmauer. Mittlerweise „gärte“ es auch in meinem Magen; ich blieb trotzdem als einziger Meßdiener noch eine Weile am Altar, bis auch ich kurz vor der „Wandlung“ ebenfalls zum Erbrechen nach draußen lief, und der Pfarrer sich selber bedienen mußte. Hubert hatte tags darauf Nagel die Folgen der hinuntergeschluckten „Kostproben“ erklärt und war dabei belehrt worden, daß Kautabak kein Eßtabak sei, für den Magen zu effektiv wäre und zum Erbrechen führen müßte. Nun hatte auch Hubert den Sinn von „effektiv“ und „logisch“ begriffen.


„Hitzefrei“ nur bei 25 Grad Schattentemperatur

Das Jahr 1936 hatte einen heißen Sommer und für uns Kinder den Vorteil, wegen der Hitze an manchen Nachmittagen schulfrei zu haben. Wir nannten dies „hitzefrei“. Voraussetzung hierfür war jedoch eine Schattentemperatur von 25 Grad Celsius um 10 Uhr, und unser damaliger Lehrer hielt sich sehr genau an diese Voraussetzung. Stand das Thermometer um 10 Uhr nicht genau auf 25 Grad oder mehr, gab es kein Hitzefrei. So hatte ich mich oft geärgert, bei einer Uhr-Temperatur von 24,5 Grad nachmittags die Schulbank drücken zu müssen. Nagel um Rat gefragt, ob es möglich wäre, irgendwie die Temperatur auf dem Thermometer etwas anzuheben, um das ersehnte Hitzefrei zu erreichen, meinte, das sei doch einfach, man bräuchte nur mit einem Streichholz dem Thermometer die „Fott“ (den Hintern, womit das mit Quecksilber gefüllte Glaskügelchen gemeint war) zu wärmen, dann würden bestimmt noch mehr als 25 Grad erreicht werden. Dankbar für diesen Rat und die Schachtel mit einem Rest an Streichhölzern, die er mir noch gab, bot sich zwei Tage später die Gelegenheit, einen entsprechenden Versuch zu unternehmen. Kurz vor 10 Uhr wurde der Beginn der Unterrichtspause durch eine Glocke angekündigt, die von uns Schülern abwechselnd durch das Ziehen an einem zur Glocke führenden Draht bestätigt wurde, und sobald die Glocke ertönte, strömten die Kinder auf den Schulhof. Ich war an der Reihe, den „Glöckner“ zu spielen, sah auf das neben dem Glockendraht an der Wand befestigte Thermometer, das eine Temperatur von 24,5 Grad zeigte. Da ich mich unbeobachtet fühlte, entzündete ich schnell ein Streichholz, hielt es unter das Glaskügelchen des Thermometers, die Quecksilbersäule stieg an, und - oh Schreck! - mit einem „Pitsch“ war das Kügelchen geplatzt, und das Quecksilber perlte auf die Treppenmauer. Ich läutete anschließend schnell die Glocke, mischte mich unter die auf dem Schulhof drängenden Kinder und beobachtete aus sicherer Entfernung das Prüfen der Temperatur durch unseren Lehrer. Er stellte sich vor das Thermometer, suchte vergebens die Quecksilbersäule, schob die Brille auf die Stirn, suchte weiter, schob die Brille wieder auf die Nase, wiederholte diesen Vorgang ein weiteres Mal, bis er schließlich nach unten auf die Treppenmauer schaute, das Quecksilber sah und ein langgedehntes „Kaputt!“ vor sich hinsagte. Zu meinem Glück war er nicht auf den Gedanken gekommen, ich könnte daran beteiligt gewesen sein. Das Thermometer war geplatzt und unser Hitzefrei auch. Zehn Jahre später, nach Kriegsende und Gefangenschaft, erzählte ich anläßlich eines Klassentreffens ehemaliger Schüler unserem damaligen Lehrer die Geschichte von dem kaputten Thermometer. Er konnte sich hieran noch genau erinnern und äußerte sich mit einem „Warst du das?“ Ich versicherte ihm nochmals, daß ich der Übeltäter gewesen war und fügte hinzu, daß die „Tat“ mittlerweile verjährt sei und eine Bestrafung nicht mehr möglich wäre, was er auch lachend bejahte.

Wenn Nagels Ratschläge manchmal zum Mißerfolg führten, so lag dies weniger an ihm als an unserer mangelnden Logik. Trotz allem waren wir - unbeschadet der Misere bei der Kautabak-Kostprobe - von der Aufrichtigkeit seiner Ratschläge überzeugt, und er blieb daher unser Freund.

Wie bereits erwähnt, war Nagel durch seine Heirat der Schwager vom Totengräber „Balduins Jüpp“ geworden. Schorsch und Jüpp hatten meistens ein gutes Verhältnis miteinander, was dadurch begründet war, daß beide gerne dem Schnaps zusprachen und daher nicht seilten „die Lampen anhatten“ (eine landläufige Äußerung, wenn jemand einen über den Durst getrunken hatte). Balduin bezeichnete seinen Schwager in der Regel als „dä joode Schwore“ (der gute Schwager), besonders dann, wenn der Schwager ihm einen Schnaps spendiert hatte. Gab es gelegentlich Meinungsverschiedenheiten oder sogar Streit, wurde aus dem „joode Schwore“ plötzlich „dä herjeloofene Kollehengs“ (der hergelaufene Kohlenhengst“, eine von Balduin erfundene Redewendung, die sich auf Nagels Verbleiben in Frauenberg und auf seine frühere Tätigkeit als Bergmann bezog). Nagel hatte sich im Laufe der Jahre in Frauenberg gut eingelebt, sich den dörflichen Gewohnheiten angepaßt und wir im Schatten des Dorforiginals „Balduins Jüpp“ schließlich selber ein Dorforiginal geworden.

An einem Samstag im Mai des Jahres 1937, als ein auswärtiger Ehekanditat „Hillich“, ein alter Begriff für die Vorfeier zur Hochzeit, mit dem heutigen Polterabend vergleichbar) feierte und zu einem Umtrunk in die Dorfschenke eingeladen hatte, war auch Nagel unter den Gästen. Man trank, prostete dem Hochzeiter zu und brachte dabei alle guten Wünsche zum Ausdruck, bis auch Nagel mit dem Trinkspruch aufwartete: „Ernst, auf gutes Gelingen, und auf daß deine Kinder Zementköpfe kriegen!“ Nagel, nach seinem sonderbaren Trinkspruch befragt, antwortete, man wünschte sich auch z.B. „Hals- und Beinbruch!“, obwohl das Gegenteil gemeint sei. Und so sei das auch mit den „Zementköpfen“ zu sehen. Es wurde noch ein lustiger Abend, die Gäste waren schon ziemlich angeheitert, und da Nagel zu vorgerückter Stunde noch nicht heimgekehrt war, machte sein Trinchen sich Sorgen und schickte ihren Bruder Jüpp in die Kneipe, damit er Schorsch zur Heimkehr bewegen und ihm gegebenenfalls dabei behilflich sein sollte. Jüpp versicherte seiner Schwester, er würde „das versoffene Loch“ schnellstens heimholen, zündete sich seine Pfeife an und machte sich auf den Weg. Als er im Türrahmen der Dorfschenke erschien, wurde er von der angeheiterten und lustigen Gesellschaft mit „Hallo!“ begrüßt, und - als ob er von Anfang an zu den Gästen gehört hätte –gefragt, wo er denn so lange geblieben wäre. Nagel empfing ihn mit den überaus freundlichen Worten: „Edler Schwager, hupp, komm, setz dich zu mir, hupp, du bist der beste Mensch, hupp, den ich jemals kennengelernt habe, hupp!“ Wenn Balduin Schnaps roch, vergaß er alle guten Vorsätze und an diesem Abend auch den Auftrag seiner Schwester, ja, er erwähnte Schorsch gegenüber nicht einmal den Grund seines Kommens, kippte gleich vier bis fünf Schnäpse hinunter, weil er - wie er sagte - noch nachzuholen habe; und es dauerte nicht lange, bis auch er sich den übrigen Gästen mit „hupp“ angeschlossen hatte. Erst lange nach Mitternacht machten sich beide als letzte auf den Heimweg, der ein schwieriges Unterfangen werden sollte. Zu ihrem Glück hatten sie wenigstens die richtige Richtung eingeschlagen. Einer stützte den anderen, sie zogen sich gegenseitig hoch, wenn einer von ihnen in die Knie gegangen war und schwankten von einer Straßenseite zur anderen. Als sie einigermaßen Tritt gefaßt hatten, sangen sie lauthals das Bergmannslied; und als sie bei dem Vers „... und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezündet!“ angelangt waren, öffnete sich in einem Haus am Kirchberg das Schlafzimmerfenster, aus dem eine Frauenstimme herunterrief: „Me kann hüre, dat ihr de Lampe aanhatt, ihr versoffene Läuche!“ (Man kann hören, daß ihr die Lampen anhabt, ihr versoffenen Löcher!). Mit Mühe und Not hatten sie zuhause das Hoftor passiert, jedoch die Haustür verfehlt und stattdessen nebenan die Tür zum Schweinestall geöffnet. Und da ihre geistigen und körperlichen Kräfte sie verließen, waren sie neben der Sau im Stroh und Mist zu Boden gegangen und alsbald eingeschlafen. Trinchen hatte beide nach Hause kommen gehört, und weil niemand nach oben kam - unten nachgeschaut und beide schnarchend im Schweinestall gefunden. Da sie ohnehin nichts machen konnte, hatte sie die Spätheimkehrer wohl oder übel in ihrem Mistbeet belassen müssen.


Volksschule in Frauenberg um 1935: Neben dem Fenster oberhalb der Eingangstür die von Hand zu bedienende Pausenglocke

Schorsch wachte als erster am späten Vormittag auf, rieb sich die noch schlaftrunkenen Augen und bemerkte erstaunt, daß er sich im Schweinestall neben dem noch schlafenden Schwager befand. Durch den Schweinegeruch, der an Kleidern und Körper haftete, eilte er in die Küche, füllte eine Waschschüssel voll Wasser, entblößte seinen Oberkörper, nachdem er seine Hosenträger heruntergestreift hatte und fing an, sich zu waschen. Mittlerweile hatte auch Jüpp seinen Rausch ausgeschlafen, war nicht weniger erstaunt, im Schweinestall übernachtet zu haben, tastete seine Kleider ab und mußte feststellen, daß über Nacht seine Rocktasche herausgerissen war und seine Tabakpfeife samt Tabaksbeutel und Tabak fehlten. Durch diesen Verlust hellwach geworden, suchte er nach seinem verschwundenen Gut, sah noch wie die Sau ihn mit ihren kleinen Augen anblinzelte und den Rest seines Schweinsblasen-Tabaksbeutel mit Tabak genüßlich schmatzend hinuntermampfte. Das nächste Suchen galt nun der Pfeife, und die fand er mit geknacktem Kopf im Futtertrog liegen. Nun geriet Balduin in Wut, trat die Sau voller Wucht zwischen die Hinterschinken, die hierauf schrill aufquiekte. Und da er glaubte, Schorsch hätte ihn über Nacht im Schweinestall eingesperrt, und dadurch die ganze Misere verursacht, steigerte seine Wut in Rage. Er lief in die Küche, sah Schorsch mit gespreizten Beinen über die Waschschüssel gebeugt und trat ihn in den Hintern mit der Bemerkung: „Du herjeloofene Kollehengs, un zom Dank dofür häss du mich bei de Sau enjesperrt!“ (..., ich habe dich diese Nacht nach Hause gebracht, und zum Dank dafür hast du mich bei der Sau eingesperrt!).


'“Sau-Verzäll“

Nagel war durch den Fußtritt kopflastig geworden und mit dem Gesicht in die Waschschüssel gefallen. Nun geriet auch er in Wut und schleuderte seinem „edlen Schwager“ das Waschwasser ins Gesicht mit den Worten: „Du Dreckskerl, du kannst mir verdanken, daß du mit mir im Saustall übernachten konntest, wer weiß, bei welcher Sau du sonst noch gelandet wärest!“ Balduin, pudelnaß, sah nun seinen Irrtum ein, und ehe er sich bei Schorsch entschuldigte, kam Trinchen die Treppe herunter und bat händeringend, man möge den „Sau-Verzäll“ beenden und sich wieder vertragen. Beide willigten ein, weil sie der Meinung waren, sich verglichen zu haben und wären damit quitt.

Trinchen erzählte den beiden, daß sie während der Nacht kaum geschlafen und voller Sorge mehrere Male im Stall nach dem Rechten geschaut habe, weil Schweine unberechenbar sein können. Schorsch versicherte ihr, daß im Schweinestall noch niemandem etwas passiert sei und ein Aufenthalt darin sogar heilsam sein könne. In diesem Zusammenhang erzählte er, daß der Nachbar in der früheren Bergmanns-Kolonie sein sich mit der Zeit zur Xanthippe gemausertes Eheweib nach einer zänkischen und mit Kreischen begleiteten Runde kurzerhand beim Schopf gefaßt, in den Schweinestall geschleift und dort - mitunter sogar über Nacht - eingesperrt hatte, sei das die beste Methode gewesen, seine Ehehälfte zur Raison zu bringen; und sie sei danach eine Zeitlang so zahm wie ein Täubchen gewesen. Nagel strich seinem Trinchen über die Wange mit den Worten: „Und da du immer ein zahmes Täubchen gewesen bist, habe ich diese rabiate Tour dir gegenüber nie anzuwenden brauchen!“


Andere Gepflogenheiten

Wenige Tage später hatte Trinchen die Ereignisse dieser Nacht mit den Folgewirkungen meiner Mutter, der sie als ehemaliger Schulfreundin vieles anvertraute, lückenlos erzählt. Damals herrschten andere Gepflogenheiten: Viele Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten wurden auf einfache und wirkungsvolle Art und Weise aus der Welt geschaffen. Niemand im Kreis der einfachen Leute dachte im geringsten daran, bei Auseinandersetzungen den Schiedsmann oder sogar das Gericht zu bemühen; ja, es gab sogar Leute, die von der Existenz dieser Institutionen noch nie gehört hatten.

Nagel hatte als Rentner nach dem Tode seines Schwagers dessen Tätigkeit als Totengräber übernommen, bis auch er wenige Jahre später starb. Während Schorsch und Jüpp kein hohes Alter erreichten, ist Trinchen weit über 80 Jahre alt geworden.

Wie schnell die Jahre vergangen sind, wird einem nachdenklich bewußt, wenn man vergeblich nach den Gräbern von Balduin und den Eheleuten Nagel auf dem Frauenberger Friedhof sucht. Sie sind längst eingeebnet und erneut belegt worden.

Quelle: Kreis Euskirchen Jahrbuch 1990

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