Die Kartsteinhöhle gibt ihre Geheimnisse preis

Von Hartwig Löhr

Hier lebten schon vor 80.000 Jahren Menschen

Fährt man auf der B 477 von Mechernich in Richtung Blankenheim, so kommt man bei Dreimühlen an einer von mächtigen Baumkronen fast verdeckten Felsklippe vorbei, dem Kartstein. Vor einiger Zeit stellten Experten des geologischen Landesamtes eine akute Einsturzgefahr für Teile des Kartsteinfelsens und der darin angelegten Höhlen fest. Die Alterung eines Höhlendaches und schließlich auch sein Einsturz sind ein natürlicher Vorgang. Die Kartsteinhöhle jedoch ist ein vielbesuchter Ort. Angesichts dieser Situation waren der Kreis Euskirchen als der Besitzer des Geländes und die Denkmalpflege vor die Alternative gestellt, das in Westdeutschland einmalige Natur- und Kulturdenkmal unverändert zu lassen, es dann aber aus Sicherheitsgründen für Besucher zu sperren oder aber Veränderungen an den Höhlen in Kauf zu nehmen, um Interessenten auch in Zukunft einen ungefährdeten Besuch zu ermöglichen.

Die beteiligten Behörden entschieden sich schweren Herzens für letzteres. Bevor nun im Sommer 1977 mit dem Einbau von drei Stützpfeilern und einer Stützmauer begonnen wird, soll hier versucht werden, den bisherigen Kenntnisstand von der Entstehung des Felsens, der Höhlen und der Geschichte ihrer Bewohner zusammenzufassen.


Die Entstehung des Kartsteinfelsens und der Höhlen

Der Kartsteinfelsen ist erdgeschichtlich ein ganz junges Gestein. Um seine Bildung zu verstehen, müssen wir uns trotzdem den für menschliche Verhältnisse relativ langen Zeitraum von rund 2 Millionen Jahren vor Augen führen. Diesen Zeitraum umfaßt die erdgeschichtlich jüngste Epoche, das Quartär oder Eiszeitalter. Entgegen der vielleicht irreführenden Bezeichnung Eiszeitalter war diese Epoche nicht von ständiger Kalte gekennzeichnet, sondern durch einen wiederholten Wechsel von kalten und wärmeren Klimaphasen, die jeweils mehrere Jahrzehntausende oder Jahrhunderttausende dauerten. Hatten die Warmzeiten oder Zwischeneiszeiten anfangs noch ein Klima, da milder als das heutige war, so ähnelten Klima und Pflanzenwelt der letzten Warmzeiten den heutigen Verhältnissen. Entsprechend nahm die Klimaverschlechterung während der Kaltzeiten mit einer Gletscherausbreitung an den Polkappen der Erde und in den Gebirgen sowie die Abwanderung oder das Aussterben wärmeliebender Tierarten zu. Während einer solchen Warm- oder Zwischeneiszeit, vielleicht der vorletzten, vor mindestens 200.000 Jahren oder mehr, entsprangen die Quellen des heutigen Hauserbaches im Gebiet des heutigen Ortes Weyer. Dieses Wasser war sehr hart, also mit gelöstem Kalk gesättigt. Wenn solches kalkgesättigtes Karstwasser bei einem warmen Klima zu Tage tritt, findet eine starke Verdunstung statt und ein großer Teil des gelösten Kalkes setzt sich ab, besonders an Moosen, Schilf und Gräsern, die entlang des Wasserlaufes wachsen. Daher schnitt sich das Bachbett nicht tiefer in den Untergrund ein, sondern lief immer höher auf dem von ihm selber abgelagerten Kalk, der schließlich das ganze Tal in der Nähe der Quelle ausfüllte. Eine solche Gesteinsbildung, Travertin oder Kalktuff genannt, ist auch der Kartsteinfelsen.

Auch in unserem heutigen Klima - wir leben derzeit wieder in einer Warmzeit - bilden sich solche Kalktuffe. Bekannt sind die Uracher Wasserfälle in der Schwäbischen Alb. Die nächstgelegene Bildung ist ein Kalktuff, der sich bei Nohn ins Tal des Ah-Baches vorschiebt.

Travertin ist somit eine typische Gesteinsbildung eines gemäßigten, mitteleuropäischen Klimas. Als vor rund 200.000 Jahren der Oberlauf des Hauserbaches mit Travertin - dem heutigen Kartsteinfelsen - ausgefüllt war, setzte eine neue Kaltzeit ein. In deren kühlerem Klima wurde zum einen nicht mehr so viel Kalk vom Grundwasser gelöst wie vorher, zum anderen verdunstete kaum noch wasser nach dem Quellaustritt. Daher wurde auch kein Kalk mehr abgelagert; im Gegenteil, das Wasser begann ein neues Tal in den zuvor abgelagerten Travertin einzuschneiden. Durch diesen alten Taldurchbruch verläuft heute die Straße Dreimühlen-Weyer.

Während dieser Zeit der Eintiefung lief der Hauserbach auch am Fuße des Kartsteinfelsens entlang, den er annähernd in seiner heutigen Form schuf. Diese Abtragung legte auch den Untergrund der Travertinablagerung frei, einen mürben Dolomit. Daher konnte das fließende Wasser die stehengebliebenen Reste des inzwischen völlig verfestigten Travertins auch unterspülen und Felsüberhänge und Höhlen anlegen. In der Folge war diese geologische Situation - fester Travertin oben, mürber Dolomit darunter - für den Bestand des Kartsteinfelsens entscheidend, konnte doch die Verwitterung besonders an dieser mürben Kontaktzone zwischen beiden Gesteinen ansetzen. Durch diesen Mechanismus bildeten sich immer wieder überhängende Felspartien, die dann früher oder später abreißen und als große Blöcke zu Tal stürzen; ein Grund für die gegenwärtigen Sicherungsarbeiten.


Die Erforschung der Kartsteinhöhlen

Seit vor rund 100.000 Jahren die Kartsteinhöhlen annähernd ihre heutige Form erreicht hatten, dienten sie Mensch und Tier gelegentlich als Unterschlupf.

Die meisten Kenntnisse darüber verdanken wir verschiedenen Ausgrabungen. Erste Grabungen fanden schon im 19. Jahrhundert statt, doch ist weiter nichts über sie bekannt 1). Wie die Felsinschrift am Höhleneingang besagt, wurden 1911 und dann noch einmal 1913 sehr umfangreiche Grabungen unter der Leitung von C. Rademacher sowohl in der großen wie auch in der kleinen Höhle veranstaltet 2).

Natürlich halten häufig Ausgräber eines Fundplatzes wenig von der Arbeit, die andere vor ihnen an der gleichen Stelle geleistet haben, doch stellt man Rademachers Grabungen anderen, gleichzeitigen Unternehmungen gegenüber, so schneiden sie nicht besonders gut ab, wie schon wenige Jahre später der Direktor des Bonner Landesmuseums, H. Lehner, erkannte 3). Wenn wir auch zugestehen, daß Grabungen in einer Höhle, besonders in einem so unübersichtlichen Gelände wie dem Kartstein, besondere technische Probleme stellen, so wünschten wir uns heute doch zumindest genaue Lagepläne der alten Grabungsflächen. Wir können heute die Grenzen der ausgegrabenen Bereiche nur mutmaßen. Sicherlich ist vor dem Haupt (Süd)-Eingang der großen Höhle gegraben worden; ob dabei der anstehende Felsboden überall erreicht wurde, läßt sich bezweifeln. Das Innere der Höhle ist sicherlich soweit ausgegraben worden, wie ihr Boden heute eingeebnet ist, also etwa bis zum Fuß der Treppe, die zum nördlichen Eingang hinaufführt. Ferner ließ Rademacher an drei Stellen unter großen, herabgestürzten Felsblöcken zwischen Ost- und Nordeingang der Höhle sowie in der kleinen Höhle graben.

Natürlich hing die Technik, in der Rademacher ausgrub von den Fragestellungen ab, die er durch seine Arbeit zu klären hoffte. Um einen im Jahre 1911 möglichen Forschungsansatz aufzuzeigen, sollen die wichtigsten Etappen der Erforschung der ältesten menschlichen Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt kurz gestreift werden.

1856 wurden im Neandertal bei Düsseldorf Reste eines Menschen gefunden und von C. Fuhlrott als Repräsentant einer heute nicht mehr existierenden Menschenart vorgestellt; eine These, die von vielen Wissenschaftlern der Zeit nicht akzeptiert wurde.

Nahezu gleichzeitig, aber unabhängig von der Entdeckung des Neandertalers, veröffentlichte Ch. Darwin seine Arbeit über „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“, in der er die These aufstellt, daß die heutigen Pflanzen- und Tierarten einschließlich des Menschen nicht unveränderlich geschaffen seien, sondern sich im Laufe der Erdgeschichte aus einfacheren Vorformen entwickelt haben und noch weiter entwickeln. Ebenfalls um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann Boucher de Perthes in Nordfrankreich in eiszeitlichen Kies- und Lehmablagerungen Faustkeile und andere Steinwerkzeuge zu sammeln, die er mit Recht für die Produkte primitiverer Menschen hielt.

1860 veröffentlichte E. Lartet aufgrund erster gezielter Ausgrabungen in Höhlen Beweise für das Zusammenleben früherer Menschen mit heute ausgestorbenen Tierarten: „Mensch und Mammut“. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts versuchte dann der Bonner Gelehrte H. Schaafhausen die Bedeutung des Neandertaler Skeletts klarzustellen. Ebenso tätigte er erste Ausgrabungen in westfälischen Höhlen und auf dem Martinsberg bei Andernach am Rhein. Spätestens seit dieser Zeit fanden überall in Europa gezielte Ausgrabungen in Höhlen und unter überhängenden Felsen nach eiszeitlichen Tierresten und menschlichen Steinwerkzeugen statt, die man inzwischen gut zu erkennen wußte.

Besonders viel wurde natürlich in den Höhlenreichen Kalksteingebieten gegraben, so in Frankreich und Belgien, aber auch in Süddeutschland im fränkischen und im schwäbischen Jura. In der Eifel wurde während dieser Pionierphase 1879 die Buchenloch-Höhle bei Gerolstein ausgegraben 4).

In Frankreich waren bis 1872 so viele mehrschichtige Fundstellen bekannt, daß G. de Mortillet ein Zeiteinteilungssystem für die jeweils wiederkehrenden, verschiedenen Vergesellschaftungen unterschiedlicher Stein- und Knochengeräte vorschlagen konnte, das in seinen Grundzügen noch heute gilt, aber schon seit der Jahrhundertwende ständig weiter verfeinert und regionalen Besonderheiten angepaßt wird.

Rademacher genügte es im Jahre 1911 offenbar, nicht zuletzt aus musealen Sammelinteressen, Funde zu gewinnen, die sich in das zu seiner Zeit schon beinahe althergebrachte Einteilungsschema von de Mortellet einordnen ließen. Das ständige Überprüfen angenommener Entwicklungsschemata, der Versuch diese zu verfeinern und örtliche Abweichungen zu belegen, also die Kennzeichen wissenschaftlicher Arbeitsweise, lagen C. Rademacher nicht gleichermaßen am Herzen wie anderen seiner Zeitgenossen.

Nicht zuletzt durch H. Lehners Zweifel an den Schichtzuweisungen der Radermacherschen Funde angeregt, leitete L. Zotz im Jahre 1939 Grabungen zur Überprüfung der früheren Ergebnisse. Er legte an einige Stellen vergeblich Suchlöcher an, bis er im Eingangsbereich der kleinen Höhle das Glück hatte, unter großen Versturzblöcken, die gesprengt wurden, noch nicht ausgegrabene Fundschichten anzutreffen. Zotz konnte daraufhin einen ziemlich vollständigen Querschnitt durch die tieferen Füllschichten der kleinen Höhle anlegen. Über diese Grabung ist ein ziemlich ausführlicher Bericht veröffentlicht 5); die Originalunterlagen und Funde sind jedoch anscheinend wegen des bald nach der Grabung ausgebrochenen Krieges verlorengegangen.

Während des Krieges wurde das Innere der großen Höhle offenbar einplaniert und einiger Abraum der alten Grabungen hinausgeschafft und die Hänge vor den Eingängen hinuntergekippt.

1959 wurde der von L. Zotz angelegte Querschnitt durch die kleine Höhle von A. Herrenbrodt noch einmal freigelegt. Dies führte in der Folgezeit zu unerlaubten Raubgrabungen und erheblichen Zerstörungen an der noch erhaltenen Schichtsubstanz. Zur Sicherung wurde das Schichtprofil der kleinen Höhle dann ermauert und der Höhlenboden mit Baustahlmatten und Sand abgedeckt.

1970 schließlich wurde vom Verfasser eine kleine Fläche beim Ortseingang der Haupthöhle untersucht, die noch ungestörte Schichten vom Ende der letzten Eiszeit erbrachte, die beim Bau der Treppen des Rundweges angerissen worden waren 6).

Weiterhin gibt es am Hang unterhalb der Felswand Spuren einer ganzen Anzahl von Bodeneingriffen, die teils von Grabungen und archäologischen Suchlöchern, teils auch von der Steingewinnung stammen dürften. Über sie alle liegen keine Berichte vor. In den vergangenen zwei Jahren führte das Rheinische Landesmuseum eine detaillierte Vermessung des Kartsteingeländes und der Höhlen durch 7). Ebenso bemühten sich die Bildstelle des Kreises Euskirchen und das Landesmuseum um eine fotografische Dokumentation der Höhle in ihrem unveränderten Zustand.

Die Funde der Rademacherschen Grabungen befinden sich heute im Römisch-Germanischen Museum in Köln. Die wichtigsten Werkzeugfunde in der Dauerausstellung sind für jedermann zu besichtigen. Wie schon gesagt, sind die Funde und Unterlagen der Grabungen Zotz vom Jahre 1939 im Krieg verlorengegangen. Die nicht sehr zahlreichen Fundstücke aus den kleinen Untersuchungen von 1959 und 1970 befinden sich im Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Weitere, oberflächliche auf dem Abraum der alten Grabungen aufgelesene Funde sind im T. Hürten-Museum in Bad Münstereifel und im Kreismuseum in Blankenheim ausgestellt.


Landrat J. Linden und Regierungspräsident Dr. G. Heidecke mit dem Autor
Foto: K. Jacobi


Die Besiedlungsgeschichte der Kartsteinhöhlen

Nach dem, was wir oben zu den ersten Ausgrabungen gesagt haben, können wir annehmen, daß wesentlich mehr Fundschichten mit unterschiedlichem Inhalt in den Höhlen vorhanden waren, als damals erkannt wurden. Daher wollen wir hier auch nicht die Fundansprüchen der früheren Ausgräber übernehmen, noch sie im einzelnen diskutieren und richtigstellen, sondern versuchen, einen Gesamtüberblick über den Geschehnisablauf während der letzten rund 80.000 Jahre zu geben, der auf der Kenntnis des gesamten erhaltenen Fundmaterials beruht.

In den tiefsten, also ältesten Schichten sowohl der großen wie der kleinen Höhle fanden sich Tausende von Tierknochen und Zähnen, hauptsächlich von heute ausgestorbenen Raubtierarten wie Höhlenbär und Höhlenhyäne. Diese Knochen sind nur zum geringsten Teil, wenn überhaupt Reste menschlicher Jagdbeute. Die Höhlen und Felsnischen des Kartsteins dienten zu Beginn der letzten Kaltzeit vielmehr den Raubtieren als Versteck, in das sie ihre Beutetiere schleppten und verzehrten, in das sie sich aber auch selber während der kalten Jahreszeit zum Winterschlaf zurückzogen und im Frühjahr, um dort ihre Jungen zu werfen. Nehmen wir nur an, daß alle 100 Jahre ein Höhlenbär aus seinem Winterschlaf nicht mehr aufwachte, so ergibt sich nach 20.000 oder 30.000 Jahren eine gewaltige Menge von Knochen, die sich am und im Boden der Höhle ansammelte.

Zu dieser Zeit kam der Mensch recht selten zur Höhle; vielleicht um einmal einen Bären im Winterschlaf zu erlegen. Kämpfe zwischen Bär und Mensch um den Besitz der Höhle als Wohnstatt hat es sicherlich nicht gegeben, denn der steinzeitliche Mensch war zu keiner Zeit von Höhlen als Wohnstätten abhängig. „Höhlenmenschen“ hat es nie gegeben; im Gegenteil, hielten sich die Steinzeitmenschen vielleicht weniger in Höhlen auf, als die heutigen Erbforscher der Steinzeit. Warum Höhlen bei der Erforschung der ältesten Menschheitsgeschichte trotzdem eine sehr wichtige Rolle spielen, sei kurz erklärt.

Von dem Moment an, in dem eine Höhle von der Außenwelt her zugänglich wird, beginnt auch schon ihr langsamer Verfall. Wind, Frost und Regen wirken auf Wände und Decke der Höhle ein und lösen Körnchen um Körnchen, Stein um Stein und gelegentlich auch große Blöcke aus dem Felsen heraus, die die Hinterlassenschaften gelegentlicher Höhlenbewohner - sei es Tier, sei es Mensch - zudecken. Höhlenfundstellen bieten also besonders gute Erhaltungschancen für Funde, die im Freiland bald nach ihrer Ablagerung abgespült werden oder wie Knochen leicht verrotten. Eine Höhle als vorgegebener Lagerplatz hatte einen wiederholten Fundniederschlag an der gleichen Stelle zur Folge. An der dabei entstehenden Schichtung läßt sich dann das Altersverhältnis der Fundstücke zueinander ablesen. Weiterhin lassen sich Fundstellen außerhalb von Höhlen nur mit Mühe finden, da man auf die Beobachtung von Bodenaufschlüssen angewiesen ist. Höhlen hingegen kann man gezielt ausgraben und suchen.

Das Tempo und die Art, mit der die Siedlungsreste auf dem Boden einer Höhle zugedeckt werden, hängt vom jeweiligen Klima ab. Ist das Klima sehr kalt, so werden viele Gesteinsstücke vom Frost aus der Höhlenwand gesprengt, ist das Klima gemäßigter oder feuchter, so werden überwiegend feinere Partikel losgelößt, die eine mehr lehmige Schicht auf dem Höhlenboden bilden.

Während der letzten Eiszeit, in die die Besiedlung der Kartsteinhöhlen fällt, spielte sich die Klimaverschlechterung mit einem Gletschervorstoß von Skandinavien her zunächst recht allmählich ab. Auf dem Höhepunkt der Vereisung jedoch, als der Gletscherrand vor rund 20.000 Jahren nördlich Hamburg lag, lag die mittlere Jahrestemperatur 12 Grad unter der heutigen. Bei dieser zunehmenden Abkühlung starben zunächst die wärmeliebenden Laubbäume aus und wurden durch Nadelwälder ersetzt; doch selbst diese konnten schließlich nicht mehr in geschlossenen Beständen gedeihen. Die nördlichen, flachen Teile des heutigen Kreises Euskirchen waren damals von einer Art Steppen- oder Tundrenvegetation bedeckt.

Die Eifel und die Umgebung des Kartsteins dürften von recht kahlen Hängen mit Halden von Gesteinsschutt geprägt gewesen sein, der durch eine intensive Frostverwitterung anfiel. Nur an einzelnen günstigen Standorten, etwa in kleinen Tälchen, dürften Buschgruppen aus Polarweide, Birke und Kiefer gestanden haben. Die größeren Flüsse wie Urft, Erft und auch Veybach führten während der Frühjahrsschneeschmelze zeitweise wesentlich mehr Wasser als heute. Trotzdem wurden die Bäche von dem Gesteinsschutt, der die Hänge hinabrutschte, fast erstickt und konnten kein enges, festgelegtes Flußbett einschneiden, sondern sie füllten ihre Täler auf und schütteten weiter Schotterkegel ins Flachland hinein.

Die ersten Menschen, die die Kartsteinhöhlen mehrfach besuchten, waren sehr wahrscheinlich Neandertaler, was nicht heißen will, daß es damals besonders wild in der Höhle zugegangen ist, trauen wir doch heute dem Neandertaler weitaus größere geistige Fähigkeiten zu, als die Forschergeneration vor uns.

Im freien Land bauten die Neandertaler Hütten oder Zelte aus Hölzern, großen Knochen und Fellen. Auch in die Höhlen bauten sie solche Hütten, wenn sie sich längere Zeit darin aufhielten, wie man von Fundstellen in Frankreich weiß, die in jüngster Zeit sehr sorgfältig ausgegraben wurden. In der Kartsteinhöhle war wahrscheinlich eine Hütte in eine Nische der Höhlenwand eingebaut, die man heute zwischen dem Haupt- und dem Osteingang sehen kann. In oder vor dieser Hütte unterhielten ihre Bewohner eine Herdstelle, deren Aschereste gefunden wurden. An dieser Herdstelle bereiteten sie ihre Nahrung zu und fertigten auch die Steingeräte an, die dazu oder für die Herstellung weiterer Jagdgeräte nötig waren. Hergestellt wurden die Steinwerkzeuge aus Feuerstein, der über 40 km von alten Maasschottern westlich von Düren herangebracht werden mußte. Obwohl wesentlich schlechter spaltbar, wurden auch viele Kieselsteine und Quarzitgerölle verarbeitet, weil sie in den Buntsandsteinablagerungen um Mechernich leichter zu beschaffen waren.


Faustkeile

Während der ältesten Besiedlung wurde ein charakteristischer Faustkeil zurückgelassen (Bild 2), der als eine Art Universalgerät zum Hacken, Schneiden, Schaben usw. gedient haben könnte. Von nachfolgenden Aufenthalten der Neandertaler sind auch viele Abfallstücke von Werkzeugherstellung am Orte belegt, ferner verschiedene Schaber (Bild 3) und Spitzen (Bild 4), die zur Bearbeitung von Fellen und Holz benutzt werden konnten, etwa zur Herstellung einfacher Kleidungsstücke, die die Neandertaler ohne Zweifel trugen, wenn sie in Gruppen organisiert mit bis zu drei Meter langen Holzlanzen auf die Jagd nach großen Säugetieren gingen. Als Jagdtiere wurden am Kartstein nachgewiesen: Mammut, Wollnashorn, Wildpferd und Rentier.


Schaber der Neandertaler

Mit Annäherung an das Kältemaximum der letzten Eiszeit trat seit rund 35.000 Jahren eine neue Menschenform auf, die sich in ihrem Äußeren kaum vom heutigen Menschen unterschied: der eiszeitliche homo sapiens. Diese Menschen kamen offenbar nur zu einigen kurzen Jagdrasten in die Kartsteinhöhlen. Trotzdem ließen auch sie einige typische Werkzeuge zurück, die den technischen Fortschritt gegenüber der vorangegangenen Neandertalerzeit kennzeichnen. Der homo sapiens bearbeitete erstmals Knochen und Geweih in größerem Umfang zu Sperrsitzen, wie sie in der Kartsteinhöhle gefunden wurden. Diese knöchernen Speerspitzen kennzeichnen wahrscheinlich Wurfspeere, die es erlaubten, das Wild aus größerer Entfernung zu treffen. Bei der Steingerätherstellung wurden seit dieser Zeit die Rohstücke zunächst so zugerichtet, daß man lange Späne, sogenannte Klingen, abspalten konnte (Bild 5).


... und Spitzen

Ein etwas längerer bewohnter Lagerplatz des frühen homo sapiens wird seit einiger Zeit bei Lommersum vom Rheinischen Landesmuseum ausgegraben 8).

Gejagt wurden zu dieser Zeit in der Umgebung des Kartsteins hauptsächlich Rentier und Wildpferd, aber auch kleinere Tiere wie Schneehuhn und Schneehase, also alles Arten, die an ein Leben in kaltem Klima und offener Landschaft angepaßt waren. Die letzten eiszeitlichen Besiedlungen der Kartsteinhöhlen waren meist von nicht allzu langer Dauer und fallen in die Zeit zwischen 14.000 und 8.000 v. Chr. Dies ist die Zeit, in der in Frankreich und in Spanien die meisten der bekannten Höhlenmalereien angefertigt wurden. Solche Malereien sind in den mitteleuropäischen Höhlen bisher nicht gefunden worden, wahrscheinlich, weil sie sich im rauheren Klima nicht erhalten konnten. Daß sie möglicherweise vorhanden waren, zeigen im gleichen Stil gefertigte Ritzzeichnungen auf Schieferplatten, wie sie in den letzten Jahren in großer Zahl auf einem Siedlungsplatz bei Gönnersdorf in der Nähe von Neuwied gefunden wurden. 9). Ein Lagerplatz dieser Zeit mit zahlreichen Steinwerkzeugen wurde kürzlich vom Rheinischen Landesmuseum in Alsdorf bei Aachen ausgegraben 10).


Rohstücke für Steinklingen

Um 8.000 v. Chr. schmolzen in Skandinavien die letzten Gletscher ab und es begann eine relativ rasche Wiedererwärmung, die es auch dem Laubwald und seinen typischen Bewohnern wie Rothirsch, Reh und Wildschwein wieder zu existieren ermöglichte. Während dieser Zeit zwischen 8.000 und 4.500 v. Chr., die archäologisch mittlere Steinzeit genannt wird, lebten die Menschen in Mitteleuropa noch immer als Jäger und Sammler. Aus dieser Zeit liegen vom Kartstein, wie auch aus dem ganzen Kreis Euskirchen bisher noch keine eindeutigen Siedlungsfunde vor.

Die Bedeutung des Kartsteins als Fundplatz der jüngeren Steinzeit (4500 - 1800 v. Chr.) wurde bisher noch nicht recht gewürdigt. Zu Beginn der jüngeren Steinzeit besiedelten die nach ihren charakteristisch verzierten Tongefäßen benannten Bandkeramiker die Lößebenen zwischen Rhein und Maas. Sie verfügten über alle Errungenschaften, die die Wirtschaftsweise der Jungsteinzeit kennzeichnen. Sie lebten an festgelegten Plätzen in großen Holzhäusern, benutzten geschliffene Steinbeile, die sie zum Bau dieser Häuser und zur Rodung von Ackerflächen benötigen, ernährten sich doch neben der Jagd zunehmend durch Ackerbau und Viehzucht.

Eine Ausdehnung des jungsteinzeitlichen Siedlungs- und Wirtschaftsgebietes über den scharf begrenzten Lößgürtel hinaus erfolgte erst während der auf die Bandkeramik folgenden Rössener Kultur, von der vor einigen Jahren ganze Dörfer im Braunkohlengebiet bei Inden ausgegraben wurden. Am Niederrhein und am rechten Rheinufer begann man um diese Zeit, also etwa um 3.500 v. Chr. erstmalig, Sandböden zu besiedeln. Gleichzeitig begannen die jungsteinzeitlichen Menschen das Bergland der Eifel in ihr Wirtschafts- und auch Siedlungsgebiet einzubeziehen.

In den Kartsteinhöhlen bezeugen dies eine Anzahl steinerner Pfeilspitzen und Scherben mit charakteristischen Verzierungen 11), die am ehesten während der Bewachung von Viehherden bei der Waldweide oder bei Jagdexpeditionen zurückgelassen worden sind.

Damit ist der Kartstein der älteste jungsteinzeitliche Fundplatz in de Nordeifel, der die erste Erschließung dieses Gebietes durch Ackerbauern und Viehzüchter kennzeichnet.

Funde vom Ende der jüngeren Steinzeit oder aus der Bronzezeit sind vom Kartstein noch nicht bekannt.


Harte Arbeit auf engstem Raum

Von der älteren Eisenzeit um 700 v. Chr. bis zur Gegenwart sind dann nahezu lückenlos Benutzungen der Höhlen durch Funde belegt. Aus der Eisenzeit wurden zahlreiche Tonscherben gefunden und auch einige bronzene Gewandnadeln 12) sowie natürlich viele Knochen aus dem Küchenabfall. Der Grund für die zeitweilige Nutzung der Höhlen als Wohnstätten während der Eisenzeit dürften nicht die Höhlen selber gewesen sein, sondern vielmehr die Befestigung, die sich auf dem Plateau des Kartsteinfelsens befindet. Diese Befestigung ist ein sogenannter Abschnittswall, der das nach drei Seiten hin durch steile Felsklippen von Natur aus geschützte Plateau gegen seinen einzigen Zugang nach Westen hin abschirmt. Die Befestigung läßt sich heute als Erdwall erkennen, aus dem einzelne größere Steine herausragen. Vor der westlichen Hälfte des Walles ist noch ein stark verflossener Graben sichtbar.

Während der Benutzung dürfte sich der heutige Wall als Mauer mit hölzerner Brustwehr dargestellt haben, die Außenschalen in Trockenmauerwerk hatte, das mit Balken versteift gewesen sein dürfte. Der Höhenunterschied zwischen Grabensohle und Mauerkrone könnte vier Meter überschritten haben.

Ob der Innenraum dieser Befestigung mit Holz- und Fachwerkhäusern - Steinhäuser gab es in der Eisenzeit noch nicht - bebaut war, können nur Ausgrabungen zeigen. Wahrscheinlicher handelt es sich um eine Fluchtburg, in der sich die Bewohner der Umgebung in Kriegszeiten zurückzogen. Die Kriege sind im einzelnen unbekannt, da für diese Zeit in Mitteleuropa noch keine schriftliche Überlieferung existiert. Genausowenig ist bekannt, ob die Befestigung eine Rolle bei den Auseinandersetzungen zwischen den römischen Invasionstruppen und den einheimischen Kelten gespielt hat, wie dies beim Ringwall von Kreuzweingarten durchaus der Fall gewesen sein kann 13).


Neue Erkenntnisse am Abschnittswall

Durchaus wahrscheinlich ist es allerdings, daß die Wehranlage im 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. wieder in Stand gesetzt wurde, falls sie nicht überhaupt erst zu dieser Zeit angelegt wurde. Seit der Mitte des 3. Jahrhunderts nämlich durchbrachen Germanen der rechtsrheinischen Stammeskoalition der Franken öfters die römischen Grenzbefestigungen am Rhein, so daß römisches Militär und Zivilbevölkerung sich seit dieser Zeit zur Errichtung zahlreicher Verteidigungsanlagen genötigt sahen.

Gleichgültig, ob der Abschnittswall auf dem Kartstein erst in dieser Zeit errichtet wurde oder wiederverwendet wurde, die römischen Funde - Herdstellen, Tongeschirr und Münzen - die aus den Höhlen geborgen wurden, datieren in diese Krisenzeiten vom Ende des römischen Reiches und dürften von Leuten zurückgelassen worden sein, die in den Höhlen zeitweilig Schutz suchten.

Im hohen Mittelalter, etwa im 13. oder 14. Jahrhundert, also als die Dörfer Weyer und Eiserfey schon bestanden, war die kleine Höhle nach Ausweis einer Anzahl von Geschirrbruchstücken und einer Herdstelle, die 1911 gefunden wurde, zeitweilig bewohnt. Zur gleichen Zeit oder etwas später wurden Teile des Kartsteinplateaus und des Hanges unterhalb des Kartsteins als Äcker oder Gärten genutzt, deren Parzellengrenzen sich noch heute teilweise im Boden erkennen lassen.

Alle jüngeren Funde aus den Höhlen, überwiegend Ton und Glasscherben sowie einzelne Geldstücke, dürften von Besuchen stammen, die den heutigen ähneln.

Wie wir gesehen haben, wurde besonders anfangs bei der Erforschung des Kartsteins Raubbau getrieben. Damit stellt sich für uns heute die Aufgabe, bei den gegenwärtigen Ausgrabungen sehr sorgfältig zu arbeiten und alle derzeit möglichen Raffinessen anzuwenden. Wenn der Kartstein nun schon durch Sicherungsbauwerke verändert werden muß, so sollte jetzt erst recht versucht werden, alle Dokumente und Funde vom alten Kartstein zu erfassen.


Wer besitzt noch alte Fundgegenstände?

Daher sollen hier diejenigen gebeten werden, die noch alte Fotos vom Kartstein oder gar von den Ausgrabungsarbeiten sowie Funde haben, dem Verfasser zur Kenntnis zu bringen. Einige interessierte Finder von Knochen, Steinwerkzeugen und Münzen haben dies schon getan und erhielten ihre Fundstücke nach der Registrierung bereits zurück. (H. Löhr, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Weyertal 125, 5000 Köln 41)


Ein Hälfte gehört dem Finder

Hier sei vielleicht noch einmal auf die gesetzlichen Bestimmungen bezüglich archäologischer Bodenfunde hingewiesen. Der Besitzanspruch ist folgendermaßen geregelt: Die Hälfte des Fundes gehört dem Finder, die andere Hälfte dem Besitzer des Grundstück, auf dem der Fund entdeckt wurde. Gegenüber dem Land, in Sachen Bodenfunden vertreten durch das Rheinische Landesmuseum in Bon, besteht eine verbindliche Meldepflicht, jedoch keine Abgabepflicht. Nur bei besonders außergewöhnlichen Funden besteht ein Vorkaufsrecht des Landesmuseums, das allerdings eine volle Entschädigung der Besitzer vorsieht.


Anmerkungen:

  1. Rademacher, C. 1911, 203

  2. Rademacher, C. 1911, Ders. 1912. Ders. 1916

  3. Lehner, H. 1919

  4. Bracht, E. 1883. Bosinski, G. u.a. 1974, 42

  5. Zotz, L. F. 1941

  6. Löhr, H. 1972

  7. Grewe, K. 1976. Jansen, W. Und Grewe, K. 1977, Bild 10, 11

  8. Hahn, J. 1972. Bosinski, G. u.a. 1974, 53 ff.

  9. Bosinski, G. u.a. 1974, 67 ff.

  10. Löhr, H. 1974

  11. Bonner Jahrb. 155, 1955

  12. Rademacher, C. 1911, Taf. 38,3

  13. Joachim, H. E. 1974, 149 ff.


Entnommen: Kreis Euskirchen Jahrbuch 1978

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